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Kinder unter Schuldruck: Der ganz normale Wahnsinn des Ü7-Verfahrens
Notendruck, fast täglich Hausaufgaben und zu wenig Plätze am Gymnasium: Der Übergang zur weiterführenden Schule aus der Sicht einer betroffenen Mutter aus Potsdam.
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In Potsdam gibt es zwei Gruppen von Eltern – die eine mit Kleinkindern, die bei dem Begriff „Ü7-Verfahren“ ein Fragezeichen im Blick hat, die andere mit Schulkindern, denen die Angst ins Gesicht geschrieben steht. Gleich vorweg: Ich (47) gehöre zur zweiten Gruppe! Ich bin eine Mutter von drei Kindern, alle schulpflichtig und mit meiner zweiten Tochter (elf Jahre) mitten im sogenannten Ü7-Verfahren. Das ist der Übergang zur weiterführenden Schule, genauer gesagt das erste Halbjahr der 6. Klasse Grundschule. Oder wie ich es nenne: das Horror-Halbjahr.
Was ist daran so schlimm? Antwort: alles! Muss das so sein? Ich glaube nicht.
Nach Ende der Sommerferien beginnt für Kinder im Ü7-Verfahren die Jagd nach guten Noten. Zumindest, wenn das Kind einen Platz auf dem Gymnasium haben möchte. Dafür reicht zwar offiziell in den Hauptfächern die Notensumme 7 (also 2, 2, 3), tatsächlich ist es damit aber nahezu aussichtslos. Warum? Es gibt zu wenig Gymnasien für die vielen Kinder, die eigentlich dafür in Frage kommen. Das Ergebnis: nur die Besten bekommen einen Platz auf ihrer Wunschschule. Das Kind muss also Einsen im Zeugnis haben, am besten in den Hauptfächern.
Dieses Pensum müssen in Deutschland nicht mal Top-Manager leisten.
Christina Drechsler, Ü7-betroffene Mutter
Dieses Ziel ist nicht nur schwer zu erreichen, es lässt auch erahnen, wie viel Druck auf den gerade mal Elf- und Zwölfjährigen lastet. Meine Tochter weinte in diesem Halbjahr mehrfach in meinen Armen – weil sie Angst hatte, es nicht zu schaffen, weil sie Angst hatte, eine schlechte Note zu bekommen, weil es einfach viel zu viele Prüfungen waren. Sie sagte Sätze wie: „Ich kann nicht mehr.“ Oder: „Ich habe kein Leben mehr, nur noch Schule.“
Seit Ende der Sommerferien (31. August) bis zum Start der Weihnachtsferien hat meine Tochter 50 Leistungskontrollen absolviert. In Worten: fünfzig! Innerhalb von vier Monaten (Herbstferien nicht abgezogen). Davon fanden etwa 20 in den Hauptfächern Deutsch und Englisch statt. Sie schrieb Klassenarbeiten, Vokabeltests, große und kleine Lernzielkontrollen, hielt Powerpoint-Präsentationen, bastelte Info-Plakate, stellte ein Herbarium her, lernte Lieder- und Flötenstücke auswendig, ließ ihre Leseleistung bewerten, schrieb ein Reisetagebuch und vieles mehr. Hinzu kamen fast täglich Hausaufgaben und die manchmal notwendige Unterrichtsvorbereitung. Dieses Pensum müssen in Deutschland nicht mal Top-Manager leisten.
Wie meine Tochter das geschafft hat? Mit sehr viel Fleiß, Kopf- und Bauchschmerzen – und Familienhilfe. Mein Mann und ich haben erklärt, abgefragt, Informationen im Internet recherchiert, Erklär-Videos auf YouTube gesucht, Lernzettel geschrieben, Beispiel-Aufgaben entworfen, Eselsbrücken gebaut, motiviert, gestärkt und getröstet. Nebenbei kümmerte ich mich um meinen Beruf, versorgte die beiden Geschwister (14 und 8), kaufte Lebensmittel ein, kochte gesund und hielt den Haushalt keimfrei. Denn krank werden, das war im Ü7-Verfahren keine Option.
Warum schreibe ich das nun? Weil jemand mal sagen muss, wie es wirklich ist. Weil ich hoffe, dass es Politiker, Städteplaner, Bildungsverantwortliche und Lehrer zum Nachdenken bringt. Meine Forderung: mehr Geld in Bildung, mehr Schulen, mehr alternative Lernmethoden. Ich glaube fest daran, dass Pädagogik noch andere Möglichkeiten hat, Kompetenz und Eignung von Kindern – ohne diesen Druck – festzustellen. Denn das darf bei alledem nicht vergessen werden: Es sind immer noch KINDER!
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