Landeshauptstadt: Kinder wollen Grundgesetz ändern
Das Kinderparlament besucht Zeitzeugen, interviewt Politiker für einen Film und steht im Briefwechsel mit der Bundeskanzlerin
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Ein Paar Lederhandschuhe, einen Bolzenschneider, etwas Pfeffer in einer Dose und eine Leiter – mehr hatte Thomas Drescher nicht dabei, als er am 24. Januar 1989 mit seinem Freund über die Berliner Mauer klettern wollte. Er war gerade einmal 21 Jahre alt. Noch am selben Tag wurde er im Oranienburger Stasi-Gefängnis inhaftiert.
In der Gedenkstätte für Opfer politischer Gewalt des 20. Jahrhunderts spricht der 47-jährige Drescher meist mit Schülern oberer Klassen, Jugendlichen, die er durch die Projektwerkstatt Lindenstraße 54 führt. Dieses Mal allerdings waren sieben- bis zehnjährige Jungen und Mädchen sein Publikum. Die Grundschüler der vierten und fünften Klasse des Horts Bornstedter Feld sind das Kinderparlament. Sie beschäftigen sich intensiv mit politischen Themen. „Im Bundestag waren wir auch schon, da haben wir sogar einige Politiker kennengelernt“, sagt die achtjährige Carolena. In diesem Jahr dreht sich bei den jungen Politikern alles um Freiheit und Kinderrechte. Was das überhaupt ist, wissen sie genau. „Kinderrechte sind Rechte für Kinder“, schallt es aus den Reihen. „Zum Beispiel das Recht, dass man zur Schule gehen darf“, sagt eine Schülerin. „Gehen muss“, korrigiert ein anderer.
Auch Drescher hat bereits früh begonnen, über seine eigenen Rechte nachzudenken. Schon als Jugendlicher hatte er große Träume, wollte weit reisen und selbst über sein Leben bestimmen. Mit zwei Leitern im Gepäck fuhren Drescher und sein Freund in einer Nacht im Januar 1989 zur Grenze. Eine der Originalleitern ist noch heute in der Gedenkstätte in der Lindenstraße 54 zu sehen. Um sie besser transportieren zu können, hatte Drescher vorher jede zweite Sprosse der Leiter entfernt, schließlich musste alles ganz schnell gehen. Er würde es ganz bestimmt schaffen, davon war er überzeugt. „Damals dachte ich, dass ich gar nicht erschossen werden kann, weil ich doch viel schlauer bin als die Soldaten“, berichtet der Zeitzeuge. „Dann wurde ich von den Scheinwerfern geblendet, sodass ich nichts mehr sehen konnte. Ich fiel von der Leiter und wurde erwischt.“
Später erklärt Drescher in einem nachgestellten Verhörraum von 1989, warum man ihn damals fragte, wer noch von seinem Plan wusste und an welchem Ort er die Leiter umgebaut hatte. In der Fotozelle können die Schüler selbst einmal den Hebel bedienen, mit dem die Inhaftierten auf einem Holzstuhl fürs Foto ins rechte Licht gerückt wurden. Höhepunkt der Führung sind die von 1989 erhaltenen Originalzellen. „Im Gefängnis wurden die Häftlinge nicht mit ihrem Namen, sondern mit einer Zahlenfolge – nämlich ihrem Geburtsdatum – angesprochen.“, erzählt Drescher. Er selbst war Häftling Nummer 22051967.
Die Schüler überfallen den Zeitzeugen mit etlichen Fragen. Einige besonders kreative Köpfe im Kinderparlament bringen den gelernten Tischler mit ihren Vorschlägen auch mal zum Schmunzeln. „Schade, dass du in deiner Zelle keinen Fernseher hattest, dann hättest du daraus einen Fluchttunnel bauen können“, schlägt ein Schüler vor.
Das Zeitzeugengespräch ist nur ein Teil der Auseinandersetzung der Kinder mit ihren eigenen Rechten. An diesem Montag präsentierten sie im Filmmuseum ihren eigens produzierten 20-minütigen Film. Ein Jahr lang arbeiteten sie daran. Unterstützt von der Aktion Mensch und der Medienwerkstatt Potsdam interviewten sie Senioren, Kinder im Asylbewerberheim Am Schlaatz sowie Bundes- und Landespolitiker. Doch mit dem Film ist ihr Projekt längst nicht abgeschlossen. „Wir haben unser Ziel noch nicht erreicht“, sagt Hortleiterin Sylvia Swierkowski. „Die Kinderrechte sollen ins Grundgesetz aufgenommen werden.“ Einen Brief an Angela Merkel haben sie schon geschickt. Die Antwort der Bundeskanzlerin hat sie aber nicht überzeugt. Als nächstes steht eine Petition an den Bundestag auf der Agenda der kleinen Parlamentarier.Mareike-Vic Schreiber
Mareike-Vic Schreiber
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