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Holocaust-Gedenken: „Kleine Dinge machen Großes möglich“

Drei neue Stolpersteine in der Potsdamer Weinbergstraße erinnern seit Dienstagabend an die jüdische Familie Lehmann. Zur Verlegung kamen auch Nachfahren aus den USA

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Innenstadt - Metall schlägt auf Stein. Für Momente ist nur dieses klackende Klopfen in der Weinbergstraße zu hören. Gunter Demnig kniet auf dem Gehweg vor dem Haus Nummer 36 und versenkt Pflastersteine rund um die drei glänzenden Stolpersteine mit einem Hammer ins graue Betonpulver im Boden. Um ihn herum haben sich mehr als 150 Potsdamer versammelt, Anwohner sind darunter, Vertreter der jüdischen Gemeinde, der Stadtverwaltung, Lokalpolitiker. Aus den USA sind die Nachfahren der Lehmanns für diesen Moment angereist. Jetzt schweigen alle in der Abendsonne. Es ist eine andächtige Stille, manche der Gäste sind gerührt. Die Klarinette ist verklungen, zwei Schüler haben die Lebensgeschichte der Lehmanns verlesen – unendlich viel Leid in knappen Sätzen –, Lara-Marie Brzezimski hat ein eigenes Gedicht vorgetragen. Noch ein paar Schläge, dann gießt Demnig Wasser an, schaufelt nassen Sand auf die Steine und kehrt sie wieder frei. Zieht ein Tuch aus der Hosentasche und poliert die drei kleinen Platten. Siegfried und Margarethe Lehmann und ihr Sohn Alfred haben wieder einen Platz in Potsdam bekommen.

Es war die sechste Stolpersteinverlegung in der Landeshauptstadt, insgesamt 29 solcher kleiner Gedenktafeln erinnern nun an ermordete jüdische Potsdamer jeweils vor deren letzter Wohnung. In der Weinbergstraße 36 waren es die Lehmanns mit dem jüngeren Sohn Alfred. Günter, dem Älteren, gelang noch 1939 die Flucht in die USA. Sein Sohn Ralph lebt heute in Tampa in Florida – das letzte „N“ im Nachnamen hat er lange abgelegt.

Der Neurochirurg spricht und versteht Deutsch, er ist in Hamburg geboren, erzählt er. Die Reise nach Potsdam und dieser Tag bedeuten viel, nicht nur für seine Familie. Er zitiert einen Spruch, der Stalin zugeschrieben wird: „Ein Toter ist eine Tragödie, eine Millionen Tote sind Statistik.“ Auch hinter den ungeheuren Opferzahlen des von den Nationalsozialisten betriebenen Holocausts verschwindet der Schrecken des Einzelschicksals. Mit den Stolpersteinen, meint Lehman, wird das Schicksal seiner Großeltern und seines Onkels wieder greifbarer: „Sie sind nicht mehr nur Teil der Statistik.“ Schüler des Humboldt-Gymnasiums haben sich mit dem Leben der Lehmanns befasst, Potsdamer nehmen Anteil, die heutigen Hausbewohner werden an sie erinnert. Das sei eine kleine Geste, sagt Lehman: „Aber nur durch solche kleinen Dinge wird Großes möglich.“

Für die Humboldt-Gymnasiasten war das Projekt auch ein Stück Auseinandersetzung mit der Geschichte der Schule: Denn Alfred Lehmann lernte einst an der städtischen Oberrealschule, dem Vorgänger des Gymnasiums, wie Stine Seibert erzählt. Die ersten Anhaltspunkte für die Recherche fanden die Schüler dann auch in Alfreds Schülerakte im Schularchiv. Später waren die Zehntklässler noch unter anderem im Brandenburgischen Landeshauptarchiv, studierten ein Buch über jüdische Juristen in Potsdam – denn Vater Siegfried war Rechtsanwalt – und nahmen per E-Mail Kontakt zu Ralph Lehman in Florida auf. „Mit Unterstützung der Familie haben wir dann alles zusammengefügt“, sagt die Schülerin. Auch Fotos aus der Familienchronik hätten die Lehmans für die Arbeit beigesteuert.

Siegfried Lehmann und seine Frau Margarethe kamen aus dem schlesischen Breslau nach Potsdam, der Rechtsanwalt hatte seit 1920 eine Kanzlei in der heutigen Brandenburger Straße 24. Die Nazi-Gesetze machten es ihm nach 1933 zunehmend schwer, als Jurist zu arbeiten. Als 1938 schließlich das Berufsverbot kam, war Siegfried 64 Jahre alt. Das Ehepaar verarmte und lebte eine Zeit lang im sogenannten Jüdischen Altersheim in Babelsberg. Ende 1942 wurden sie nach Berlin gebracht. Margarethe wurde im Januar 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spur verliert, ihr Mann starb am 7. Februar 1943 in Berlin. Sohn Alfred konnte seine Fluchtpläne nicht mehr verwirklichen: Der angehende Jurist wurde am 9. November 1938 vor dem Landgericht Potsdam wegen „Rassenschande“ zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein „Verbrechen“: Er hatte eine „arische“ Freundin. Es folgte eine Odyssee durch verschiedene Gefängnisse und Außenarbeitskommandos, nach Ablauf der Strafe kam er in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Groß-Rosen, wo er im September 1941 als 32-Jähriger starb.

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