zum Hauptinhalt

Homepage: Klischees auf dem Kopf Der Jemen als faszinierendes Reiseland?

Die These klingt gewagt: Der Jemen ist nach wie vor ein faszinierendes Reiseland. Renate Schmidt von der Uni Potsdam vertritt diese Meinung trotz spektakulärer Entführungen wie die des Ex-Staatssekretärs Jürgen Chrobog im Dezember und trotz des Karikaturenstreits zwischen Europa und der islamischen Welt.

Stand:

Die These klingt gewagt: Der Jemen ist nach wie vor ein faszinierendes Reiseland. Renate Schmidt von der Uni Potsdam vertritt diese Meinung trotz spektakulärer Entführungen wie die des Ex-Staatssekretärs Jürgen Chrobog im Dezember und trotz des Karikaturenstreits zwischen Europa und der islamischen Welt. Eine besondere Art der Konfliktbewältigung habe sie im Jemen ausgemacht, sagt die Dekanatsassistentin in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. „Und nicht jeder wird dort entführt – es gibt sogar einen regelrechten Beschützerinstinkt der Einheimischen gegenüber Ausländern“, sagte Schmidt unlängst bei einem Themenabend des Deutsch-Arabischen Länderkreises der Berlin-Brandenburgischen Auslandsgesellschaft.

Aus ihrer Sicht schildert sie den Staat am südlichen Zipfel der Arabischen Halbinsel als „das orientalischste, das arabischste Land“ des Nahen Ostens. Vergangenes Jahr lebte Renate Schmidt für sechs Monate dort, arbeitete bei einem Anti-Korruptionsprojekt der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). In ihrem Vortrag stellt sie bewusst gängige Klischees über die arabische Welt auf den Kopf. Etwa beim Thema Frauenrechte und Islam. Natürlich gäbe es keine Chancengleichheit, auch von der Familie organisierte Heiraten ohne das Einverständnis der Braut seien an der Tagesordnung. Ein Grund für die Missachtung sei schon der Koran an sich, an dessen Inhalt 99 Prozent der Jemeniter glauben: Im Heiligen Buch der Muslime wird die Frau unter den „Schutz“ der Männer stellt. So ist im Jemen die Vollverschleierung verpflichtend, die Frauen zu zwei Leben mit und ohne Stoff vor dem Gesicht gezwungen. „Der Schleier bietet jedoch für die Frauen auch die Chance, für sich selbst auf der Straße unerkannt zu bleiben, wenn sie wollen“, sagt Schmidt.

Es sind solche Widersprüche und Extreme, mit denen die Besucher des Themenabends konfrontiert werden. Jemen, dass ärmste Land im Nahen Osten. Drei Viertel der Bevölkerung leben auf dem Land. Mehr als die Hälfte davon sind Analphabeten, bei den Frauen können sogar 80 Prozent nicht lesen und schreiben. Bei rund 30 Prozent liegt die Arbeitslosenquote, andere Schätzungen gehen gar von 50 Prozent aus. Besonders junge Leute sind davon betroffen – und ihre Zahl wächst, fast 50 Prozent der Bevölkerung ist heute unter 14 Jahren alt, weil die Geburtenrate extrem hoch ist.

Und noch eine wichtige Zahl nennt Renate Schmidt: Bei einer Einwohnerzahl von 20 Millionen Menschen wird von insgesamt 60 Millionen Waffen in der Bevölkerung ausgegangen. „Auf dem Land sind etwa Kalaschnikows völlig normal und gelten, obwohl sie nie genutzt werden, als Statussymbole.“ Denn, so stellt Schmidt immer wieder fest, die Jemeniter würden ihre Konflikte friedlicher als andere ihrer arabischen Nachbarn regeln. So seien selbst bei den Entführungen – meist ausgelöst durch Konflikte zwischen den gesellschaftlich immer noch mächtigen Clans und Stämmen – kaum Menschen zu Tode gekommen. „Die Menschen dort sind tiefreligiös, aber nicht in islamistischen oder fundamentalistischen Sinn.“

Woran die scheinbar sanftere Natur der Jemeniter noch liegen mag, dafür hat Renate Schmidt eine weitere Erklärung. Die Blätter des Kath-Strauchs, die im Jemen als Volksdroge gekaut werden. Der Genuss dämpft den Geist, sagt Schmidt. Zugleich lähmt Kath die Aktivität, Lethargie ist die Folge. Die Erzählungen über die in Europa weitgehend unbekannt Droge lösen viele Nachfragen im Publikum aus. Jemen als Reiseland scheint da für manch jüngere Zuhörer plötzlich gar nicht mehr unattraktiv. Henri Kramer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })