Homepage: Kumulierte Vernichtungspläne
Yale-Historiker Timothy Snyder schafft eine neue Perspektive auf den Vernichtungsterror von Stalin und Hitler
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Es ist eine ungeheure Zahl: vierzehn Millionen Menschen. Sie bezieht sich auf ein Gebiet, das sich von der Ukraine über Weißrussland und die baltischen Staaten erstreckt. Dort mordeten Nationalsozialisten und Stalinisten nacheinander alles, was von ihrer jeweiligen Ideologie abwich: unbewaffnete Frauen, Kinder und alte Menschen. „Unter den vierzehn Millionen Opfern war kein einziger aktiver Soldat“, stellt Timothy Snyder in seinem Buch „Bloodlands“ fest, das der Historiker der Yale-University unlängst auf Einladung des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Deutschland vorgestellt hat.
Stalins Terrorkampagnen, Hitlers Holocaust und der Hungerkrieg gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen führten nach Snyders Zählweise zu vierzehn Millionen Toten. Diese qualifiziert der Historiker nicht als Kriegsopfer, sondern quasi als beabsichtigten Kollateralschaden des Krieges. Snyder lenkt den Blick auf die territoriale Abgrenzung eines Gebietes, in dem ein Massenmorden stattgefunden hat, das in der Geschichte der Menschheit einmalig sei. Dort hätten sich Hitlers und Stalins Pläne überschnitten. Die Vernichtungspläne der Diktatoren trafen sich beispielsweise dann, wenn Hitler in Polen befahl, „alle Vertreter der polnischen Intelligenz“ umzubringen, während Stalin bei Katyn und anderswo polnische Offizierskorps erschießen ließ. Stalin war nicht zimperlich, etliche Millionen Tote hatte der Diktator bereits zu verantworten, als Hitler ihn angriff.
Indem Snyder den Blick auf die territoriale Abgrenzung einer Region lenkt, schafft er so etwas wie ein Brennglas. In dem bündeln sich die unterschiedlichen Vernichtungsstrategien zur Schaffung eines Großreiches nationalsozialistischer, bzw. sowjetischer Provenienz.
Hitler wollte etwa 40 Millionen unterjochte Russen, Ukrainer, Polen und andere Balten verhungern lassen. Die Kalorien, die sie zuvor aus dem von ihnen angebauten Getreide gezogen hatten, sollten dem deutschen Volk zukommen. Stalin hielt das Massaker an den unterjochten Völkern für notwendig, um die Beherrschten ebenfalls auszubeuten. Die meisten zivilen Toten verursachten die beiden Gewaltherrscher nicht durch Mord, Totschlag, Erschießungen und Vergasung, sondern durch die Abriegelung von Städten und Gebieten, deren Ausplünderung und die anschließenden Hungerkatastrophen.
Detailliert zeigt Snyder zudem auf, wie aus den ursprünglichen Plänen Hitlers zum Blitzsieg über die Sowjetunion die Pläne zum Genozid an den Juden der besetzten Gebiete reiften. Der Massenmord wurde Snyders Deutung nach nicht zuletzt deshalb notwendig, um angesichts des Scheitern der Eroberungspläne die Wehrmacht durch ihre Beteiligung an dem völkermörderischen Verbrechen auf die Fantasien vom Endsieg einzuschwören. Erst der Einmarsch in die Sowjetunion hatte Hitler den Zugriff auf die beiden größten jüdischen Gemeinschaften in Europa, nämlich in Polen und der Sowjetunion, eröffnet. „Die meisten deutschen Juden, die Hitlers Wahlsieg 1933 erlebt hatten, starben eines natürlichen Todes“, stellt Snyder fest, auch wenn die Ermordung von 165 000 deutschen Juden – so die von Snyder recherchierte Zahl – ein schreckliches Verbrechen gewesen sei.
Snyder ist nicht der Einzige, dem die Ballung von Gewaltexzessen innerhalb des bezeichneten Territoriums in jüngster Zeit aufgefallen ist. Wassili Grossmann beschreibt die Gemetzel aus literarischer Perspektive in seinem Buch „Leben und Schicksal“. Lina Klymenko und Anne-Katrin Lang berichten darüber in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Und Enzo Traverso bemüht sich in seinem Buch „Im Banne der Gewalt“ um eine betont sachliche Perspektive.
Der Ansatz Snyders ist dennoch nicht unproblematisch. Der Historiker geht nicht von den Interessen der Politiker und Völkerrechtssubjekte aus, sondern von einem Territorium. Ein geografischer Ort oder ein Staat ist allerdings zunächst an sich ohne jede Absicht. Kriege und Raubzüge werden erst durch die in einem Gebiet handelnden Menschen verständlich. Zudem birgt die Benennung einer bestimmten Geografie stets die Gefahr, sich in summarischer Leichenzählerei zu verirren. Dieser Gefahr versucht Snyder dadurch zu begegnen, dass er in sein Buch die Beschreibung individueller Schicksale einstreut. Die von ihm gewählte dokumentarische Form ist vermutlich die einzige, in der das möglich ist. Völlig angemessen wirkt der Kunstgriff dennoch nicht, weil die Versachlichung den einzelnen Schicksalen meist nicht gerecht wird.
Snyder schafft es jedoch über die unfassbaren Zahlen hinaus das Monströse der jeweiligen Vernichtungspläne deutlich zu machen und letztlich auch zu zeigen, aus welchen politischen Prozessen diese resultierten. So schafft das glänzend recherchierte und von Snyder mit feinster Rhetorik vertretene Buch eine neue Perspektive für die Betrachtung politischen Terrors.
Timothy Snyder; Bloodlands; Beck Verlag; ISBN 978 3 406 621 840, 29,95 Euro
Richard Rabensaat
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