Von Yvonne Jennerjahn: Lebensrettung – roter Faden seines Lebens
Vor 150 Jahren wurde der evangelische Theologe Johannes Lepsius geboren
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Als Schutzengel und Humanisten würdigen ihn die einen, beinahe als Vorläufer Bonhoeffers oder Oskar Schindlers. Die anderen warnen vor der Verklärung eines Mannes, der auch deutschnationalen und antisemitischen Kreisen im deutschen Kaiserreich nahegestanden habe. Vor 150 Jahren, am 15. Dezember 1858, wurde in Berlin der evangelische Theologe und Chronist des Armenier-Völkermordes im Osmanischen Reich, Johannes Lepsius, geboren.
Für die Theologie entschied er sich erst nach einem Philosophie- und Mathematikstudium. Eine „praktische Kritik der Wirklichkeit“ werde seine Theologie sein, schrieb der Doktor der Philosophie 1881 in einem Abschiedsbrief an seinen Doktorvater. Soziales Handeln und Lebensrettung „hier und jetzt“ seien sein Ziel gewesen, beschreibt der Hallenser Theologie-Professor und Lepsius-Experte Hermann Goltz die Haltung des Mannes, der stets Kant und das Neue Testament zur Lektüre mit sich getragen habe. Nicht ein „Jenseits“, sondern die Welt habe Lepsius als Raum „für das Reich Gottes und seine Vollendung“ gesehen.
1884 nimmt Johannes Lepsius in Jerusalem, damals Teil des Osmanischen Reiches, seine erste Stelle als Hilfsprediger und Lehrer an. 1895 erfährt der Theologe, inzwischen Pfarrer im Harz, von den seit dem Vorjahr laufenden Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich. Wenige Monate später macht er sich vor Ort selbst ein Bild. Nach seiner Rückkehr veröffentlicht Lepsius noch im Sommer 1896 den Bericht über seine „Fact-Finding Mission“, wie sie heute in der Flüchtlingshilfe längst üblich sind. Auf mehr als 100 000 schätzt er in dem Buch „Armenien und Europa.
Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland“ die Zahl der Armenier, die „erschlagen, an ihren Wunden erlegen, auf der Flucht verschollen, an Hunger gestorben sind, Seuchen erlagen und unter dem Schnee des Winters in den Bergen begraben wurden“. Heute geht man sogar von bis zu 300 000 Toten aus. Lepsius zählt ferner 2500 verwüstete Städte und Dörfer, 645 zerstörte Kirchen und Klöster der christlichen Minderheit, 559 zwangsweise zum Islam bekehrte Dorfgemeinschaften, 328 in Moscheen umgewandelte Kirchen und mehr als 500 000 Überlebende in großer Not.
Im Herbst legt Lepsius sein Pfarramt nieder, weil ihm die Magdeburger Kirchenleitung keinen weiteren Urlaub für seinen Einsatz für die Armenier gewährt. Dann gründet er das Armenische Hilfswerk in Berlin. Krankenhäuser, Schulen, Arbeitsstätten für die verfolgte Minderheit entstehen so im Nahen Osten. Später verlegt er Büro und Wohnsitz nach Potsdam, gründet dort ein christlich-islamisches Seminar. Ab 1912 beteiligt er sich an internationalen Verhandlungen für eine Unabhängigkeit der armenischen Gebiete im Osmanischen Reich.
Der Erste Weltkrieg setzt allen Autonomieplänen ein Ende. Im Frühjahr 1915 beginnt mit Beteiligung des deutschen Bündnispartners ein Völkermord an den Armeniern, dem bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fallen. Lepsius, der inzwischen über vielfältige Kontakte verfügt, versucht persönlich noch im Sommer erfolglos, den türkischen Kriegsminister Enver Pascha von dem Genozid abzubringen. 1916 gibt er dann ein weiteres Buch heraus. Der „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ wird von der deutschen Zensur verboten.
Dennoch erteilt das Auswärtige Amt zwei Jahre später dem längst international bekannten Lepsius den Auftrag, eine Dokumentensammlung über die Haltung der deutschen Regierung in der Armenierfrage zu publizieren. Das Ministerium will damit die deutsche Beteiligung am Völkermord verschleiern: Die Schriftstücke, die Lepsius nur als Kopien zur Verfügung gestellt werden, sind - ohne dass dieser es weiß - manipuliert. Dennoch wird die damit entstandene Dokumentation im Ausland immer noch als Beleg für die deutsche Beteiligung am Armenier-Genozid gesehen, das Auswärtige Amt unterbindet daher die weitere Verbreitung.
Über diese „Lepsiusdokumente“ wird immer wieder gestritten. Der frühere „Spiegel“-Journalist Wolfgang Gust wirft dem Theologen vor, er habe die Manipulationen aus Sympathie für das Kaiserreich noch verschärft und die deutsche Beteiligung weiter verschleiert. Und in seinen Schriften fänden sich Hinweise auf deutschnationale und antisemitische Überzeugungen. Hermann Goltz weist die Vorwürfe zurück, der Professor wirft dem Journalisten Fehlinterpretationen und wissenschaftlich-methodische Fehler vor. Zwar weise das Lepsius-Werk auch „kritisch zu wertende Nebensachen“ auf, so Goltz. Doch der rote Faden seines Lebens seien die „über das nationale und nationalistische herausragende Humanität“ und die Hilfe für die verfolgten Armenier. Der Schriftsteller Franz Werfel hat ihm dafür mit dem von den Nazis sofort verbotenen Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Johannes Lepsius hat das Buch nicht mehr lesen können. Er war bereits Jahre zuvor, am 3. Februar 1926, schwerkrank in Meran gestorben.
Yvonne Jennerjahn
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