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Südsee oder Grimnitzsee? Bei den augenblicklichen Temperaturen kann man da schon mal was verwechseln. Ähnlich entspannt ist es in der Schorfheide allemal.

© laif

Von Hans W. Korfmann: Letzter Ausstieg Grimnitzsee

Am Kaiserbahnhof Schorfheide herrscht himmlische Ruhe. Badeseen locken und Unterkunft gibt’s beim Pfarrer

Stand:

Das Ende der Welt liegt bei Berlin. Schon kurz hinter Eberswalde werden die Bahnstationen immer seltener, die Kühe auf den Wiesen zahlreicher. Letzte Station ist der Kaiserbahnhof von Joachimsthal. Hier ist die Ruhe zu Hause. Denn danach kommt nichts mehr. Da beginnen die Gleise zu verrosten, auf denen die Züge einst bis Templin fuhren. Nur noch dreimal in der Woche kommt ein mit Baumstämmen beladener Güterzug vorbei. Aber die Bahnhofswirtschaft gibt es weiterhin in dem kleinen Haus mit der viel zu großen Bahnhofsuhr, den gehäkelten Gardinen und dem Gemüsegärtchen.

Gegenüber der Wirtschaft liegt die Weite der Felder, auf denen Scharen von Wildgänsen sitzen. Sie verbringen ruhige Sommer zwischen Grimnitz- und Werbellinsee. Erst spät im Herbst ziehen sie nach Süden. Dann wird es noch ein bisschen stiller in Joachimsthal. Fischadler, Kormorane, Milane und andere Vögel hingegen überwintern in der menschenarmen Landschaft der Schorfheide. Auch ein Seeadlerpärchen hat seinen Horst über dem seichten See mit seinen fünf Badestellen errichtet. Selbst einige Menschen halten in Joachimsthal durch, denn es gibt eine Neustadt mit Aldi und Netto. Dann, schon ganz nah am See, ist da noch ein Adelssitz, ein ockergelbes Gebäude. Es beherbergt heute eine christliche Wohngemeinschaft.

Dort taucht ab und zu ein Spross der blaublütigen Eigentümerfamilie auf. Er ermahnt die christlichen Pächter, die Hecken zu schneiden und den Rasen zu pflegen. Die im großen Zimmer versammelte Gemeinde nickt brav mit den Köpfen und schreitet zur Tat. Doch wenn der Verwalter das nächste Mal erscheint, ist alles schon wieder wie eh und je: Das Gras im kleinen Park steht trotz des Mähens längst wieder hoch wie in der Taiga. Auch vom exakten Schnitt der Hecken ist nur noch wenig zu sehen.

Einen besonders guten Draht zu dem, der die Geschicke aller lenkt, hat Claus- Dieter Schulze. Fünfzehn Jahre ist es her, da gründete der Pfarrer eine Art Selbsthilfegruppe für arbeitslose Theologen und machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Wohnsitz. Er hörte von einem Haus am See, in dem zuvor ein Kindergarten und die städtische Baubrigade untergebracht waren, und wo „etwas Christliches“ einziehen solle. Er war fündig geworden. Mit den Eigentümern des Landsitzes wurde der Gottesmann schnell einig. Als Mitglied des örtlichen Männerchors ist Schulze heute im Dorf anerkannt. Auch die anderen Mitglieder der friedlichen Kommune mit ihrem Komposthaufen, dem Ökogemüse und der Biokläranlage werden durchaus ernst genommen.

Inzwischen haben sie auch ein Forsthaus aus dem Jahre 1719 gekauft, gleich nebenan, mit Haupthaus, Loggia, Nebengebäuden, Hof und Ställen, in denen Gästezimmer für all jene Großstadtbewohner entstehen sollen, die Sehnsucht nach Ruhe verspüren. Und weil auch idealistischste Ökobauern nicht von Kartoffeln und Kohl allein leben können, hat die Landkommune schon mal im Adelssitz mit dem Vermieten geübt. „Die ersten, die zu uns kamen, schliefen noch auf Matratzen auf dem Boden. Das war alles noch ziemlich bescheiden...“, erinnert sich Schulze. Inzwischen gibt es in den Nebengebäuden nicht nur Mehrbettzimmer für Jugendgruppen oder Seminarbesucher, sondern auch zwei Ferienwohnungen.

Claus-Dieter Schulze ist keiner, der nur die Hände faltet und betet. Er ist auch einer, der anpackt. Deshalb studierte er zunächst die Juristerei, gelangte jedoch bald zu der Überzeugung, das Übel bei der Wurzel packen zu müssen – und begann bei Helmut Gollwitzer, dem „Studentenversteher“, mit dem Studium der Theologie. Auch Schulze wurde ein „Studentenversteher“ und 1971 Leiter des praktischen theologischen Ausbildungsseminars in Schlachtensee. Der Bischof hatte befunden: „Wir nehmen Schulze, der ist nur drei Jahre älter als die Studenten. Das mögen diese 68er.“

Schulzes Leben ist heute ruhiger. Obwohl er es auch im Ruhestand nicht lassen kann. Immer wieder mischt er sich ein, schimpft auf den „Turbokapitalismus“ und versucht gemeinsam mit einem seiner Mitbewohner eine Alternativwährung in Umlauf zu bringen. Mit Hans-Jürgen Fischbeck, Physiker und Bürgerrechtler in der DDR, brachte er aus Anlass der 400-Jahr-Feier der Gemeinde den „Joachimstaler“ unter die Leute. Eine Woche lang konnten die Dörfler auf Festmeile und in Geschäften des Städtchens mit den Talern bezahlen. Später gab’s die „Uckermark“, und nach neuerlicher Währungsreform die „Oderblüte“. Schulze und Fischbeck sind keine Träumer, die Sparkasse in Barnim tauscht noch heute ihre „Oderblüte“ zum Kurs von Eins zu Eins in den mehr oder minder harten Euro.

Doch ein bisschen kommt auch der 70 Jahre alte Kämpfer Schulze am Ende der Welt zur Ruhe. Manchmal sitzt er im Schuppen und sortiert Kartoffeln, befreit den Kohl von Schnecken, bereitet den Kompost. Manchmal lockt auch der Grimnitzsee, der schon die Karpfen für Kaiser Wilhelm lieferte. Die Gäste des Hauses wandern gern in kleinen Gruppen zum Jagdschloss Hubertusstock am Werbellinsee, tief im größten Buchenwald Europas, wo einst Helmut Schmidt und Erich Honecker zusammenkamen. Langweilig wird einem nicht am Ende der Welt.

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