Landeshauptstadt: Liebe, mehr als nur ein Wort
Der Holocaust-Überlebende Pavel Stránský erzählte im Buchladen Sputnik seine Geschichte
Stand:
Die „Hochzeitsnacht“ verbrachten Pavel und Eva Stránský am Bahnhof von Theresienstadt, zusammen mit 2500 anderen Juden auf dem Asphalt hockend. Ihre „Hochzeitsreise“ dauerte zwei Nächte und einen Tag. Zusammengepfercht in einem Viehwaggon, umgeben vom Sterben und dem unerträgliche Gestank von Exkrementen, die ganze Zeit keine Nahrung, kein Wasser. Ziel ihrer „Hochzeitsreise“: Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, dem größten Vernichtungslager während der Zeit des Nationalsozialismus, in dem bis 1945 über eine Millionen Menschen, der größte Teil davon Juden, vergast wurden.
Pavel Stránský sagt tatsächlich „Hochzeitsnacht“ und „Hochzeitsreise“, wenn er von diesem Dezember im Jahr 1943 erzählt. Damals war er 22 Jahre alt und wusste nicht, was ihn in Auschwitz erwarten würde. Er wusste am Tag seiner Ankunft auch nicht, was die Häftlinge meinten, als sie den Neuankömmlingen zuflüsterten, sie sollen zu den hohen Schornsteinen schauen. Nur durch diese führe der Weg wieder heraus aus diesem Lager.
Pavel Stránský hatte seine Vera geheiratet. Die Vera, der er als 17-Jähriger in seiner Heimatstadt Prag gesehen und sich mit dem ersten Blick in sie verliebt hatte. Vor dem Transport hatten sie sich durch das jüdische Hochzeitsritual trauen lassen. So hielten sie die Hoffnung fest, dass sie dieses Elend miteinander und füreinander überstehen können. Als sie beide in Auschwitz ankamen, wussten sie nicht, dass sie bald getrennt werden würden. Sie wussten auch nicht, dass sich ihnen hier die Hölle offenbaren würde. Sie wussten nur, dass sie sich lieben und ihnen diese Liebe die Kraft geben würde, alles zu überstehen.
Pavel Stránský sitzt am Montag im Buchladen Sputnik in der Charlottenstraße und erzählt die Geschichte, wie er den Holocaust überlebt hat. Eine Geschichte, die auch eine Liebesgeschichte ist, wie er sagt. Pavel Stránský ist 87 Jahre alt. Fast versinkt der kleine Mann in dem grünen Sessel. Sein Blick hinter der Brille ist wach. Sein linker Arm, auf dem noch immer deutlich die fünfstellige KZ-Nummer zu erkennen ist, ruht auf der Sessellehne. Knapp 45 Minuten erzählt er seine Geschichte mit einer warmen, festen und so freundlichen Stimme. Da ist kein Hass, keine Wut, kein Vorwurf. Pavel Stránský erzählt und reiht nüchtern Episode an Episode. Egal wie viele Bücher man zu diesem Thema gelesen hat, wie viele Erfahrungsberichte auch darunter waren. Erst durch Pavel Stránskýs Stimme wird das Unbegreifliche auf einmal fassbar und legt sich mit all seinem Gewicht auf die 25 Zuhörer.
Er erzählt von seinem Vater, der sich – während Pavel Stránský zusammen mit seiner Mutter Veras Familie besuchte – das Leben nahm, weil er die Demütigungen die er als Jude nach der Besetzung der Tschechoslowakei im Oktober 1939 durch Hitlerdeutschland erdulden musste nicht mehr ertrug. Er erzählt vom KZ Theresienstadt und dem Transport nach Auschwitz-Birkenau. Und von der Tätowierung auf dem linken Arm. „Das war der letzte Akt der Demütigung. Wir hatten keinen Namen mehr, waren nur noch Nummern. Das machte es leichter. Es ist einfacher eine Nummer auszuradieren, als einen Menschen zu töten.“
Pavel Stránský erzählt von dem Kinderblock, in dem er als Lehrer arbeitete. „Wir wussten, dass wir die Kinder nicht retten konnten. Unser Ziel aber war es, die letzten Tage der unschuldigsten Opfer des Holocausts zu verschönern.“ Sie sangen zusammen Lieder und lernten Gedichte, deren letzte Strophen immer Hoffnung ausdrückten. Sie probten Theaterstücke zu deren Aufführungen die SS-Wachmannschaften und KZ-Arzt Josef Mengele, der Todesengel von Auschwitz, kamen. Als Pavel Stránský erzählt, dass Mengele gelegentlich eines der Kinder auf seinen Schoss nahm, ihm über die Haare strich und sagte, er könne ihn ruhig Onkel nennen, scheint ihm für einen kurzen Moment die Stimme zu brechen.
Pavel Stránský hat diese Hölle überlebt. Er hat auch die Todesmärsche überlebt. Über 200 Kilometer in 19 Tagen, erst nach drei Tagen gab es eine dünne Suppe. Auch seine Frau Vera hatte überlebt, war aber schwer an Flecktyphus erkrankt. Zwei Monate nach Kriegsende sah er sie in Prag wieder. „Und da stand dieses wunderschöne Mädchen vor mir, genauso schön, wie ich sie in all den Monaten in meinen Tag- und Nachtträumen gesehen hatte.“ Weil ihre jüdische Trauung nicht anerkannt wurde, gingen beide zum Standesamt. „So habe ich das liebevolle und schöne Mädchen zweimal geheiratet.“
Vor zehn Jahren ist Eva Stránský gestorben. Im Gegensatz zu Pavel Stránský konnte sie über ihre Zeit in den Konzentrationslagern nicht reden. Pavel Stránský hatte 1997 zum ersten Mal seine Geschichte erzählt. „Am Anfang war es schwer, doch mit der Zeit fiel dadurch eine Last von mir.“ Seit Jahren reist er durch die Welt und erzählt seine Geschichte vom Holocaust, die auch eine Liebesgeschichte ist, immer und immer wieder. „Das ist meine moralische Pflicht, so lange ich es kann“, sagt Pavel Stránský.
Am Ende fragt er die Zuhörer, was das Wichtigste im Leben sei. Gesundheit, Glück, an sich selbst zu glauben, lauten die Antworten. Dann sagt einer: „Liebe“. Pavel Stránský lehnt sich lächelnd in den Sessel zurück, faltet die Hände und sagt: „Danke, das wollte ich hören“.
Dirk Becker
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: