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PYAnissimo: Liebe Stadt

Vor einer Woche stand ich auf dem Deich der holsteinischen Ostsee. Morgens halb acht.

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Vor einer Woche stand ich auf dem Deich der holsteinischen Ostsee. Morgens halb acht. Kaninchen hoppelten durch Kraut und Stranddistel, Rehe lugten furchtlos aus dem saftigen Waldstreifen hervor. Die Sonne schien, die See spiegelglatt. Eine Seeschwalbe tauchte nach Futter. Unvorstellbar, hier je wieder weg zu müssen.

Zwei Tage später saß ich im Zug von Hamburg nach Berlin. Mit jedem Kilometer wurde die Luft trockener und feinstaubiger, jedenfalls gefühlt. Das Fleckchen Erde, fernab von Straßenlärm und meinem E-Plus-Netz, an dem ich aus sentimentalen Gründen irgendwie hänge, dafür mit dem Duft von reifem Rapsfeld und salzigen Wiesen, dem Rauschen mächtiger, düsterer Baumkronen über kleinsten Bauernhäusern, es verblasste mit jedem neuen Halt auf der Strecke. Schluchz. Ich hoffte auf eine schnelle und möglichst schmerzarme Rück-Akklimatisierung.

Unerwartete Hilfe bekam ich bereits im Zug. Eine Berliner Übermutter mit zwei kleinen Jungs unterhielt uns großartig mit Kostproben jener nachhaltigen, achtsamen und konzeptionell durchdachten Großstadtkiezpädagogik, die Zuschauer stets erschüttert zurück lässt. „Jetzt habe ich das Spiel extra für unsere Zugfahrt gekauft, also spielen wir es auch“, sagte die angefressene Mutter nach 15 Minuten Diskussion um belegte Brote an einem Tisch, der mit einem für Fünfjährige faszinierenden Klappmechanismus ausgestattet war. Nach zwei Spielerunden, einigen sofort unterm Sitz verloren gegangenen Zubehörteilchen und viel brüderlichem Zwist gab die Mutter auf. Die Jungs schauten für den Rest der Fahrt einer fröhlichen Rockergruppe beim Umtrunk zu, die Mutter malte im Malheft. Berlin, wir kommen.

In der S-Bahn nach Potsdam telefonierte ein ohrverstöpseltes Mädchen lautstark und theatralisch. Es ging um eine Wohnungsbesichtigung. 900 Euro wollte „der reiche Schnösel“ haben. Und wie soll sie das neben dem Unistress schaffen? Sie wippte mit dem übergeschlagenen Füßchen und beugte sich schmerzhaft nach vorne, der Mann ihr gegenüber lächelte schamvoll. Dabei verpasste sie die einstudierte Choreografie des Straßenfeger-Verkäufers und die Schilderungen einer schwäbischen Turnierreiterin über die Zustände auf hiesigen Pferdehöfen.

Heimat, liebe Heimat. Was hat Potsdam sonst noch, was die Ostsee nicht hat? Krähen statt Möwen. Weniger Nacktschnecken, dafür mehr Mücken. Weniger Wind, mehr Temperatur. Die Kiefern in der Parforceheide knackten leise Sonntagfrüh. Ganz ferne rauschte – nicht das Meer, sondern die A115.

Und dann Dienstagnacht Stromausfall. Alle Nachbarn stürzten auf ihre Terrassen und Balkone, und als wir feststellten, dass wir gemeinsam betroffen waren, stellte sich sofort dieses verbindende Lagerfeuergefühl ein. Kerzen wurden angezündet, irgendwo ein Brettspiel aufgebaut, Würfel klapperten. Wie beim Campingurlaub. Herrlich. Leider war nach 15 Minuten der Strom wieder da. Aber man kann eben nicht alles haben.

Unsere Autorin ist freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Babelsberg

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