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Homepage: Literatur im Klosett

Vortrag übers heimliche Lesen in der DDR

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Manche haben die verbotenen Bücher in der Zugtoilette versteckt. In Plastikfolie eingeschlagen und mit Draht haben sie sie an den WC-Rand geklemmt. Und wenn jemand während der Fahrt vom Westen in die DDR seine Notdurft darauf verrichtete? „Umso besser für die Literaturschmuggler“, sagt Historiker und Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis. „Dann kontrollierten die Zollbeamten nicht so genau.“ Der Professor der Universität Leipzig sprach diese Woche im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte über „das heimliche Lesen in der DDR“. Der Vortrag ist Teil der Reihe „DDR-Zeitgeschichte dokumentieren!“, den Informationswissenschafts-Studenten der Fachhochschule Potsdam organisiert haben.

Heimliches Lesen – das klingt nach politischem Untergrund oder wenigstens nach schwarz gekleideten Intellektuellen, die die Bücher verbotener Autoren diskutieren. Die Wirklichkeit sah meist anders aus: Die heimlichen Leser in der DDR interessierten sich offenbar vor allem für Mickymaushefte, Otto-Kataloge und Liebesromane. Das geht aus den Akten der DDR-Zollfahnder hervor, die jegliche beschlagnahmte Schmuggel-Literatur genau dokumentierten.

Für Lokatis sind die Zollarchive eine der wichtigsten Quellen für die Forschung über das heimliche Lesen in der DDR. Und wer war nun der heimliche Leser in der DDR? „Den gab es gar nicht“, sagt Lokatis. Die heimlichen Leser waren Kinder, die in der Bravo schmökerten, Männer, die in der West-Fußballzeitschrift „Kicker“ blätterten, Intellektuelle, die heimlich Trotzki lasen und Wissenschaftler, die versuchten, dank verbotener Fachpublikationen auf dem neuesten Stand zu bleiben. Spannender als die Zollakten scheinen darum die Zeitzeugenberichte.

Lokatis erzählt Anekdoten von Anhängern der in der DDR verbotenen Zeugen Jehovas, die die Seiten ihres „Wachturm“-Magazins in Backpflaumen versteckt über die innerdeutsche Grenze schmuggelten. Über Menschen, die Texte auswendig lernten, die ganze Bücher mit der Hand abschrieben. Und über die evangelische Kirche, die unerlaubte theologische Literatur gleich Lkw-weise in die DDR brachte. Die Kirchenmitglieder tauschten dafür zwei baugleiche Lkws auf einem Transitparkplatz einfach aus. Der eine war mit erlaubten, der andere mit verbotenem religiösen Lesestoff gefüllt. Lokatis bringt seine Zuhörer mit diesen Geschichten immer wieder zum Lachen. Eins stellt er jedoch klar: Die Schmuggler, aber auch die heimlichen Leser gingen damals ein großes Risiko ein. Ihnen drohten mehrjährige Gefängnisstrafen.

In Lokatis Vortrag standen aber nicht nur der heimliche Leser im Vordergrund, sondern auch die Zensoren im DDR-Kulturministerium. Einen roten Leitfaden für ihre Verbote schienen die nicht zu haben. Das habe ganz von der politischen Situation, aber auch vom Geschmack des jeweiligen Zensors abgehangen, sagte Lokatis. So waren Karl-May-Bücher in den 50er Jahren unerwünscht, in den 70er Jahren dagegen wurden sie gedruckt. Werke des sowjetischen Diktators Stalin, die in den 50er Jahren noch Standard waren, verschwanden in den 60er Jahren dagegen ganz, nachdem sich 1956 die KPdSU offiziell vom Stalinismus distanziert hatte.

Und was war so schlimm an Mickymaus? Die Zensoren befürchteten, die Hefte könnten die DDR-Jugend davon abhalten, in die Pionier- oder FDJ-Organisation einzutreten.just

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