Landeshauptstadt: „Man muss die Kinder einbeziehen“ Regisseur Bernd Sahling über die Dreharbeiten zu dem Film „Kopfüber“ und den Umgang mit ADHS
Herr Sahling, Ihr Film „Kopfüber“ eröffnet am morgigen Donnerstag die Schulkinowochen im Land Brandenburg. Ist das für Sie etwas Besonderes?
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Herr Sahling, Ihr Film „Kopfüber“ eröffnet am morgigen Donnerstag die Schulkinowochen im Land Brandenburg. Ist das für Sie etwas Besonderes?
Na, unbedingt. In Potsdam ist der Film zu Hause. Ich habe hier an der HFF studiert und auch im DEFA-Studio gearbeitet. Letztlich habe ich die Geschichte, die der Film erzählt, auch in Potsdam erlebt.
Die Geschichte um den zehnjährigen Sascha mit der Diagnose ADHS, der Medikamente bekommt, um besser lernen zu können, haben Sie selbst erlebt?
Was den Sozialarbeiter und den Jungen betrifft, da ist nicht viel erfunden. Ich konnte eine Zeit lang als Kinderfilmregisseur nicht genügend Geld verdienen. In Potsdam wurden Mitte der 90er-Jahre Männer gesucht, die eine Arbeit als Familien- und Einzelfallhelfer übernehmen, und ich durfte eine Weile für das Jugendamt arbeiten. Ich habe längere Zeit mit einem Jungen zu tun gehabt, der mit zehn Jahren nicht lesen und schreiben konnte.
Genau wie im Film Sascha...
Was diese Figur betrifft, konnte ich mit meiner Co-Autorin Anja Tuckermann auf eigene Erlebnisse zurückgreifen.
Ist Ihnen das Thema ADHS ein Anliegen?
Der von mir betreute Junge war einer der ersten, der so eine Diagnose damals hatte – wir kannten das ja überhaupt nicht und es gab auch wenig Erfahrung mit dem Medikament. Das ist ein Teil der Geschichte – ein nicht unwesentlicher. Aber man kann den Film nicht auf ein ADHS-Thema reduzieren. Zur besseren Vermarktung machen das alle, aber es geht um mehr: um die Frage des angemessenen Umgangs von Erwachsenen mit Kindern und andersrum - erzählt aus Sicht eines Zehnjährigen.
Das macht letztlich den Erfolg ihres Films aus. Wie schaffen Sie das, dass Ihre Filme sowohl bei Erwachsenen als auch Kindern und Jugendlichen ankommen?
Indem ich versuche, die Kinder in ihren Konflikten sehr ernst zu nehmen und ihnen dabei auch zutraue, sich auf eine ungewohnte Erzählweise einzulassen. Wir wollten den Film nicht kindelnd erzählen und dadurch findet er auch Interesse bei den Erwachsenen.
Wie haben Sie den Hauptdarsteller gefunden, der ja sehr eindrucksvoll ist?
Wir hatten Hilfe von der Agentur von Jacqueline Rietz in Potsdam, die lange gesucht hat. Das Mädchen Elli, Saschas Freundin, haben wir mit ihrer Hilfe bald gefunden. Bei der Rolle des Sascha war es wirklich schwer, so einem Jungen zu begegnen. Ich bin immer noch überzeugt, dass man mit Kindern arbeiten sollte, die ein ähnliches Schicksal haben, einen ähnlichen Charakter und dass man sie nicht hinbiegen kann. Und dann sind wir in die Betreuungseinrichtungen gegangen, wo Kinder sind, die eine ähnliche Veranlagung wie Sascha haben und in der Berliner Arche in Reinickendorf haben wir ihn dann gefunden. Und hatten auch keine leichte Zeit mit ihm. Die Dreharbeiten waren sehr turbulent.
Sie wurden wieder zum Sozialarbeiter?
Ja, das hätte ich nicht gedacht, aber das war zum großen Teil gerade an den Wochenenden wieder Sozialarbeit.
Was hat der Film dem Jungen gebracht?
Dem Jungen hat es sehr viel Selbstbewusstsein gegeben. Er wollte oft abbrechen. Aber wenn man sich durchkämpft, hat man so einen Film für den Rest des Lebens. Er war natürlich unglaublich stolz, vor 1000 Leuten bei der Berlinale zu stehen. Ich bin vorher extra hingegangen, um ihn vorzubereiten, das hätte ich mir klemmen können. Er hat sich schick gemacht und eine halbe Stunde lang Autogramme gegeben.
In dem Film lassen Sie die Antwort auf die Frage, ob man bei ADHS-Diagnose Medikamente geben soll, offen. Haben Sie trotzdem eine klare Position dazu?
Ich habe eine klare Position dazu: dass es nur ganz speziell mit einem Kind abgestimmt geht, mit den Eltern, den Ärzten, mit begleitender Therapie.
Ein zehnjähriges Kind soll mitentscheiden, ob es Medikamente bekommt?
Man muss es unbedingt einbeziehen. Ein zehnjähriges Kind ist eine große Persönlichkeit mit allen Gefühlen, wie wir Erwachsenen sie auch haben. Das versuchen wir ebenso in der Filmarbeit, um mit den Kindern auf Augenhöhe zu kommen und sie als Kollegen zu behandeln und nicht als kleine Darsteller, die machen, was wir ihnen sagen. Ganz im Gegenteil: Wir schauen genau hin, was bieten sie an und was ist da vielleicht besser als unsere Idee. Genau dasselbe sollte auch stattfinden bei der Entscheidung, Medikamente zu geben. Das Kind sollte sehr stark miteinbezogen werden, auch um herauszufinden, und wie es ihm oder ihr mit den Medikamenten ergeht.
Halten Sie das in jedem Alter für sinnvoll?
In jedem Alter sollten die Kinder miteinbezogen werden. Das können die Eltern am besten. Ich bin kein Spezialist, aber ich finde es bedrohlich, dass die Medikamentenverschreibung in den letzten Jahren so einen enormen Zuwachs bekommen hat. Da ist großer Diskussionsbedarf.
Das Gespräch führte Grit Weirauch
Bernd Sahling wurde 1961 in Naumburg
geboren und studierte in Potsdam an der
HFF Regie. Mit seinem Spielfilmdebüt
„Blindgänger“
gewann er 2004 den
Deutschen Filmpreis.
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