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Landeshauptstadt: Mauer im Kopf

Jan hat ein Trauma: Als er 14 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. Zwei Monate muss Jan in der Psychiatrie bleiben

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Als Jan* in die Psychiatrie kam, waren die Bäume vor dem Fenster seines Krankenzimmers noch kahl. Genauso kahl wie die gewaltige Mauer der Strafvollzugsanstalt Brandenburg, an der sein Blick unweigerlich endete, sobald er aus dem Fenster sah. Das war im März. Jetzt ist die triste graue Fläche hinter den leuchtend grünen Blättern der Kastanien im Krankenhaus-Park verschwunden.

Aber im März betrat Jan den Raum, in dem er nun zwei Monate leben sollte und sah als erstes die Mauer: Jan, 15 Jahre alt und „so durch den Wind“, dass ihn seine Erzieher aus dem Jugendheim in Potsdam in die zuständige Landesklinik nach Brandenburg brachten – in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sein erster Gedanke: „Ach du Scheiße, ist das Zimmer klein!“ Ein schmaler Schlauch, drei angegraute rosa Wände - auf die ein jemand mit Edding „Hassallee“ geschrieben hat, drei Betten, drei Nachttische, die nebeneinander an der Wand stehen, weil sie nicht neben die Betten passen, ein Schrank. Den muss sich Jan mit zwei anderen Jungen teilen.

Über den Betten kleben Holzleisten an der Wand. Für Bilder und Fotos. „Die Mädchen schmücken ihre Zimmer, aber in den Jungenzimmer bleiben die Leisten immer leer“, sagt Jans Psychologe Michael Müller. Jan hat stattdessen ein Foto von seiner Mutter auf den Nachtisch gestellt. Sie ist vor fast einem Jahr gestorben. Ihr Tod hat ihn aus der Bahn geworfen. „Posttraumatische Belastungsstörung“ heißt das in der Fachsprache von Psychologe Müller.

Dann wurde Jan entlassen. 14 Tage später steht er als Besucher in dem Raum. Neben dem kräftigen Psychologen mit den wasserblauen Augen wirkt er noch schmächtiger. Ein Junge mit Sommersprossen, roten Haaren und großen braunen Augen, die nicht zum Rest passen, weil ihnen jegliches Kindliche fehlt. Sie sind auffällig glanzlos. Zwei runde matte Flächen, die einen selten ansehen.

Jans Mutter hatte Krebs. Erst vier Monate vor ihrem Tod hatten die Ärzte die Diagnose gestellt. Am 10. August besuchten Jan, sein älterer Bruder und sein Stiefvater sie im Krankenhaus, standen an ihrem Bett. Sie verließen es nur für fünf Minuten, um in der Cafeteria einen Kaffee zu trinken. Jan war der erste, der zurück in den Raum kam. Seitdem ist alles anders.

Aber Jan spricht nicht über den Tod seiner Mutter. Er beginnt zu rauchen, schwänzt die Schule, haut von zu Hause ab. Er ist oft aggressiv. Wen er ausrastet, läuft er knallrot an und schlägt um sich. Ihm ist alles „scheißegal“. Der Stiefvater ist überfordert. Das Jugendamt bringt den Jungen im Heim unter. Doch nichts wird besser. Die Heimerzieher beschließen: Jan braucht professionelle Hilfe.

Auch in der Psychiatrie will er zunächst nicht reden. Er will nicht spüren, wie sehr ihn der Tod der Mutter schmerzt: „Lieber abhauen als daran denken“, sagt er. Als sei in seinem Kopf eine Mauer, hinter der er seinen Schmerz versteckt. Er flieht immer wieder, bleibt tagelang verschwunden. Polizisten bringen ihn jedes Mal zurück auf seine Station – K1, die Abteilung zur Krisenintervention und psychotherapeutischen Komplexbehandlung.

Zwölf Jugendliche leben dort, auf allen fünf Stationen der Psychiatrie gibt es insgesamt Platz für 60 Patienten. Mit Jan sind gleichzeitig rund zehn andere Kinder und Jugendliche aus Potsdam und Potsdam-Mittelmark dort, werden wegen Ess- und Entwicklungsstörungen, Suchtproblemen, Psychosen und Pubertätskrisen von Ärzten, Psychiatern, Psychologen und Therapeuten behandelt. Die Jüngsten sind nicht einmal ein Jahr alt, die Ältesten 18. Psychologe Müller betreut die Jugendlichen von der K1.

Jan, der Ausreißer, ist jetzt ein Vorzeigepatient – einer „mit einem besonders positiven Verlauf“, sagen seine Ärzte. Er muss nur noch alle zwei Wochen zu einem Gespräch mit Müller nach Brandenburg fahren.

Nachdem er das letzte Mal aus der Klinik ausgerissen war, kam er ohne Polizei zurück, ganz allein: „Ich konnte einfach nicht mehr.“ Er unterschrieb eine Vereinbarung mit Psychologen Müller, in der er sich verpflichtete, sich an die Hausregeln zu halten, an den Therapien teilzunehmen und zu sprechen.

„Wir behandeln hier ja keine gebrochenen Arme, wir können nicht in die Köpfe reinsehen und rausprügeln können wir ja auch nichts“, sagt Müller. Jeden Morgen um 6.30 Uhr steht Jan auf, waschen, gemeinsames Frühstück im Aufenthaltsraum. Um 7.30 Uhr ertönt im benachbarten Backsteingebäude der Schulgong. 43 Schüler besuchen die Schule der Klinik, höchsten sechs pro Klasse.

In den Therapien lernt Jan, Seife herzustellen und Fahrräder zu reparieren. Er geht im Park spazieren, in den klinikeigenen Streichelzoo und nimmt sechs Kilo zu, weil das Essen so schmeckt. Vor allem aber spricht er endlich über seine Mutter. „Hier sind ja nicht alle bekloppt“, sagt Jan. Mit den Jugendlichen in der Klinik kann er besser reden als mit denen draußen. „Sie trauen sich hier mehr, denn hier haben alle eine Problematik“, sagt Müller. Mit Müller schaut sich Jan alte Familienfotos an, erzählt von den „guten Zeiten mit Mutti“. „Aber wir haben auch geguckt, wie kann es ohne sie weitergehn“, erklärt der Psychologe. Denn das konnte sich Jan nicht vorstellen, als hätte die Mauer in seinem Kopf auch die Zukunft verdeckt.

Nun will Jan Koch werden. Er geht wieder regelmäßig zur Schule. In Mathe hat er jetzt sogar eine Zwei. In seiner alten Klasse wissen alle Bescheid – die Lehrer und die Schüler. Angesprochen haben sie ihn nicht auf die beiden Monate in der Psychiatrie. Es gab auch keine blöden Sprüche. „Die haben sich alle gefreut, dass ich wieder da bin, weil ich die meisten Witze mache – jetzt lachen sie wieder alle“, sagt Jan. Und in seinen Augen blitzt eine winzige Sekunde lang ein Leuchten auf.

Doch Psychologe Müller reagiert ein wenig skeptisch: „Der Jan ist jemand, der sich schnell mitreißen lässt, wenn andere Mist machen“, sagt er und sieht Jan eindringlich an: „Du entscheidest, wie es in Deinem Leben weitergeht, Du bist der Hauptverantwortliche.“

Seine Mutter ist immer noch wichtigste Person in Jans Leben. Er spricht regelmäßig mit ihr. Dann geht er an einen geheimen Ort, irgendwo in Potsdam. Dort erzählt er ihr von seiner bevorstehenden Jugendweihe und von dem Praktikum beim Bäcker. Zum Muttertag hatte er ihr einen Blumentopf gekauft. *Name geändert

Juliane Wedemeyer

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