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Die Grenzanlage um Steinstücken  aufgenommen 1990  an der Peter Hauptmann im April 1965 erschossen wurde.

© Manfred Thomas

Von Erhart Hohenstein: Mauertote im Park

Flüchtlinge wollten von Babelsberg, Kleinglienicke, dem Neuen Garten und Sacrow aus über die Grenze

Stand:

An einem Juliabend des Jahres 1962 tanzt der 23-jährige Herbert Mende im Jugendklubhaus „John Schehr“, das sich in der Berliner Straße in der Nähe der Glienicker Brücke befand. Danach sucht er die Bushaltestelle für die Heimfahrt, wird von einem an der Brücke postierten Grenzsoldaten angerufen und von einer Volkspolizeistreife festgehalten. Als er dennoch den gerade ankommenden Bus zu erreichen sucht, schießt ihn ein Grenzer in den Rücken.

Herbert Mende überlebt den Anschlag. An Becken und Unterleib schwer verletzt, wird er zum Pflegefall. Trotz aufopferungsvoller Betreuung durch seine Eltern erliegt er am 10. März 1968 im St. Josefs-Krankenhaus seinen Leiden. Nach der deutschen Wiedervereinigung strengt Mendes Vater ein Ermittlungsverfahren gegen den Todesschützen an. Vergeblich: Auch nach zweimaliger Beschwerde erklärt die Staatsanwaltschaft, dem Grenzer sei keine Tötungsabsicht nachzuweisen.

13 Personen, denen die ab 1961 in den heutigen Potsdamer Welterbeparks verlaufenden Grenzsicherungsanlagen zum Schicksal wurden, nannte Maria Nooke von der Stiftung Gedenkstätte Berliner Mauer in einem überaus spannenden Vortrag „Flucht- und Mauertote im Bereich der Potsdamer Parklandschaft“. Grundlage ist ein gemeinsames Projekt der Stiftung und des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF). Der Vortrag eröffnete das Begleitprogramm zur Ausstellung „Mauerblicke“ mit Fotos von Peter Rohn, die bis 31. Oktober im Schloss Babelsberg gezeigt wird.

Schon bald nach der Grenzschließung gab es eine ganze Reihe von Potsdamern, die sich der Beschränkung ihrer Freiheit nicht fügen wollten. Wie auch von auswärts kommende Fluchtwillige versuchten sie, die Havel und ihre Seen zum Westberliner Ufer zu durchschwimmen. Doch dieser anscheinend einfachste Fluchtweg wurde bereits vor seiner Absperrung durch Wasserhindernisse manchem zum Verhängnis. So erlitt der Grenzsoldat Lothar Lehmann (19) einen Kälteschock, als er am 26. November 1961 vom Sacrower Ufer den Jungfernsee durchschwimmen wollte, und starb auf dem Weg ins Lazarett. Auf der gleichen Strecke ertrank die 53-jährige Erna Kelm, ihre Leiche wurde im Juli 1962 bei Nikolskoe angeschwemmt. Der 23-jährige Potsdamer Horst Plischke wurde im März 1963 beim Durchschwimmen des Jungfernsees von einem Grenzboot aus erschossen. Mit Taucheranzügen professionell ausgerüstet hatten sich zwei junge Sachsen aus Freiberg, die ihre Flucht im Tiefen See begannen. Doch bei Norbert Wolscht fiel das Atemgerät aus, so dass er erstickte. Auch sein Kamerad Reiner Gneiser ertrank.

Dramatisch verliefen mehrfach Fluchtversuche, die von bewaffneten Grenzsoldaten selbst unternommen wurden. So tötete der flüchtige Geltower Offiziersschüler Peter Böhme am 18. April 1962 den Unteroffizier Jörgen Schmidtchen, der ihn nach der Parole gefragt hatte, und wurde daraufhin selbst von einem zweiten Posten erschossen. Horst Körner erschoss am 16. November 1968 den Unteroffizier Rolf Henniger, der ihn kontrollieren wollte, und wurde daraufhin von dessen Beifahrer getötet. Beiden Todesschützen wurde nach der Wiedervereinigung durch Gerichte Notwehr attestiert.

Die von Unsicherheit, Furcht und Aggressivität geprägte Haltung der Grenzsoldaten verdeutlichte Maria Nooke auch an einigen bei aller Tragik kuriosen Fällen. Peter Hauptmann war ein Babelsberger von echtem Schrot und Korn. Im April 1965 nahm er zwei Seeleute nach einem Umtrunk im „Waldschlösschen“ mit in sein Haus, das im Grenzgebiet lag. Die Grenzer, die Hauptmann kannten, winkten ihn samt der unerlaubten Begleitung durch. Doch die Rückkehr wurde von der neu aufgezogenen Wache verwehrt. Der Babelsberger ließ sich auf einen Wortwechsel und ein Gerangel ein – und wurde von einem Grenzer niedergeschossen. Nach Notoperation im Armeelazarett Drewitz erlag er am 3. Mai 1965 seinen Verletzungen.

Ehrenamtlicher Helfer der Grenztruppen und Zuträger der Stasi war der staatstreue Sacrower Lothar H. Nach einem Treff mit seinem Führungsoffizier in der Potsdamer Innenstadt ließ ihn bei der Rückfahrt der Busfahrer außerhalb der Haltestelle aussteigen. Im Dauerlauf strebte H. durch den Wald seinem Elternhaus zu. Dabei wurde er von einem Grenzer erschossen, der ihn für einen Flüchtling hielt.

Es tröstet nicht, aber beruhigt doch, dass laut Maria Nooke DDR-weit 71 000 zwischen 1961 und 1989 beim Grenzdurchbruch gefasste Flüchtlinge mit dem Leben davonkamen und nach Gefängnisstrafen meist in den Westen durften. Etwa 40 000 gelang sogar die Flucht. Dazu zählte übrigens am 15. Juni 1971 der Stadtverordnete und junge BNN-Redakteur Helmut Schimpfermann, der in Kleinglienicke mit seiner Frau und zwei Kleinkindern die Grenzanlagen überwand.

Die Vortragsfolge zur Ausstellung „Mauerblicke“ wird am Mittwoch, 9. September, 18 Uhr, durch Axel Klausmeier zum Thema „Grenzsystem im Hinterland - zur Bedeutung der Kasernen“ fortgesetzt. Ort ist der Marstall im Schloss Glienicke gleich hinter der Glienicker Brücke. Der Eintritt ist frei.

Erhart Hohenstein

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