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Landeshauptstadt: Mega-Unfall an der Langen Brücke

Potsdam übte am Samstag den größten Katastrophen-Einsatz seiner neueren Geschichte: Ein nicht immer problemloses Unterfangen mit hunderten Helfern

Stand:

9.45 Uhr: Vor der Katastrophe gibt es Kaffee. Der Krisenstab der Stadt ist vollzählig am Lustgarten versammelt, ein erstes Verpflegungszelt steht. Oberbürgermeister Jann Jakobs und Feuerwehrchef Wolfgang Hülsebeck schwören die Helfer mit kurzen Sätzen ein – und verweisen auf die 15 Minuten, die bis Einsatzbeginn bleiben: „Zeit für einen letzten Kaffee.“

9.51 Uhr: Der Oberbürgermeister geht zum Schiff der Weissen Flotte, das bald künstlich havarieren soll. Auf dem Boot hinter dem Lustgarten am Hafen sind rund 200 junge Leute, die Hälfte Bundeswehrsoldaten aus Berlin, die anderen von der Jugendfeuerwehr. Die Soldaten bereiten schon ihre Rolle als Schwerverletzte vor, schmieren sich Kunstblut ins Gesicht, legen Blut-Ampullen an den Körper. Jakobs scherzt ob der roten Flüssigkeit: „Habt ihr gut gefrühstückt?“

10.00 Uhr: Plötzlich ist die Lange Brücke stadtauswärts gesperrt. Ein Armeelaster mit Anhänger blockiert die Fahrbahn – er soll so aussehen wie verunglückt. Polizisten riegeln die Straße ab. Radfahrer müssen verwundert anhalten. Unter der Brücke treibt eine Mischung aus Sägemehl und weißem Pulver, der simulierte Ölfilm. Das Schiff mit den bepinselten Verletzten legt am Ufer unter der „Meyerohr“-Kurve gegen 10.05 Uhr an. Aus der Ferne tönen Sirenen. Theoretisch sind nun 200 Menschen verletzt. „Wir haben diese hohe Zahl gewählt, weil nur bei dieser Größe Probleme deutlich werden“, so Feuerwehrchef Hülsebeck später.

10.10 Uhr: Die Ölspurt treibt, die Verletzten auf dem Schiff liegen in der Sonne, ein paar stöhnen vor gespieltem Schmerz – oder husten. Neugierig beobachten Passanten das Schauspiel. Feuerwehren tauchen am Fuß der Brücke auf. Drei Rettungswagen kommen zum „Meyerohr“ und gelangen auf die Wiese darunter. Nun sind auch zwei Notärzte vor Ort.

10.20 Uhr: Erste Helfer sind an Bord. Sie fragen Einzelne: „Können Sie laufen?“ Wer kann, wird nach draußen geleitet.

10.25 Uhr: Der erste Schwerverletzte wird vom Schiff getragen. Einige Kinder können allein laufen. Als sie draußen sind, scheinen sie ratlos: „Und jetzt?“ Derweil versuchen die Ärzte erste Personen nach ihrem Verletzungsgrad einzuteilen.

10.29 Uhr: Rund 20 Bundeswehrsoldaten sitzen im Gras vorm Schiff. Ein blutverschmierter Soldat ruft immer wieder: „Hilfe, meine Arm!“ Mit seiner Dramatik ist er allein. Denn die Stimmung insgesamt scheint ruhig.

10.35 Uhr: Die ersten Leichtverletzten bekommen eine Nummer. „Es war das totale Chaos“, sagt später Rosita Fischer, leitende Notärztin am Klinikum. Sie soll den Überblick behalten – nur zusammen mit einer Kollegin. Stadtsprecher Hartmut Kreft sagt nach der Übung, dass „virtuell“ noch zehn weitere Ärzte angefordert wurden. Um den Betrieb im Klinikum nicht zu gefährden, sei darauf verzichtet worden, so Jakobs: „Bei einem Ernstfall wären sie aber da.“ Unterdessen beginnen die Löscharbeiten auf der Langen Brücke. Weißer Schaum überdeckt den Asphalt. Feuerwehrmänner in orangen Schutzanzügen wagen sich an den „verunglückten“ Bundeswehr-Transporter: Sie sollen das „Dieselleck“ schließen.

10.40 Uhr: Ein weiterer Schwerverletzter wird von Bord getragen. Langsam ist die Trennung zwischen Leicht- und Schwerverletzten erkennbar. Die schlimm Verunglückten liegen auf dem Gras, Decken sollen sie schützen. Die Temperatur liegt bei sechs Grad. Immer wieder der Ruf: „Mein Arm tut weh!“ Ein Feuerwehrmann schimpft: „Die kühlen doch aus. Hier kippt alles um.“ Man warte noch vergeblich auf angeforderte Rettungskräfte aus Berlin. „Im Prinzip hätten die Verletzten auf dem Schiff versorgt werden können, da es laut Szenario noch schwimmt.“ Unterdessen leistet Notärztin Fischer weiter erste Hilfe, gibt Nummern aus, ordnet Verletzte. Später erzählt sie, dass ein Hauptproblem in der ersten Stunde das Versagen des Funknetzes gewesen sei, um weitere Helfer anzufordern. „Chaosphase“, nennt das ein Helfer. Auch Feuerwehrchef Hülsebeck räumt für die Zeit „Schwachstellen“ im Funkverkehr ein: Die Notärzte hätten nicht direkt mit der Hilfszentrale sprechen können, weil ihre Funkgeräte zu wenig Reichweite hatten. Auch Handys hätten sich nicht bewährt: „Das sind Dinge, die wir gelernt haben.“

10.55 Uhr: Ein zweiter Löschstrahl zielt vom Lustgarten-Ufer aus nach oben zum „Unglückstruck“ auf der Brücke. Auf der anderen Seite liegen derweil etwa 25 Schwerverletzte im Gras. Die Berliner Kräfte würden gesammelt, heißt es. Ein für gegen 11 Uhr angekündigter Hubschrauber für einen Verletzten lässt auf sich warten. Ein Passant steht mit einem Kind am „Meyerohr“ und erklärt in leichtem Ton: „Das ist die Sterbewiese.“

11.05 Uhr: Eine Stunde nach dem simulierten Unglück wird ein erster Verletzter auf einer Trage in den Rettungswagen geschoben. Der fährt weg, ein zweiter samt einem weiteren Opfer hinterher. Nachschub ist nicht in Sicht. „An dem Schiff gab es ein Nadelöhr“, erklärt Hülsebeck nach der Übung. Der Einsatz hätte mehr Arbeit gemacht als vorher gedacht.

11.11 Uhr: Auf einmal sind die Leichtverletzten aufgestanden. Wohin mit ihnen? Zur Grundschule am Humboldtring, einem der provisorischen Behandlungszentren? Oder doch hinter den Bahnhof, wo inzwischen eine Zeltstadt errichtet wird? „Wir brauchen mehr Rettungswagen!“

11.15 Uhr: Tatü-Tata, die Krankenwagen sind da. Nur auf der falschen Seite der Havel. Am Lustgarten fahren sechs Rettungsautos orientierungslos hin und her. Am Unfall-Ufer nimmt derweil ein einfacher Feuerwehrtransporter sechs Leichtverletzte mit. Andere sehen die falsch geleiteten Krankenwagen – und fluchen.

11.23 Uhr: Der verspätete Hubschrauber landet vorm Bahnhof auf der Wiese, sofort beginnt die Verladung eines Verletzten. Obwohl das schnell geht, ist das Fluggerät auch 20 Minuten später nicht in der Luft. Am „Meyerohr“ atmen die Helfer auf: Die Sichtung und Nummerierung aller Verletzten ist abgeschlossen.

11.45 Uhr: Rettungswagen des Deutschen Roten Kreuzes auf der Babelsberger Straße: Sie mussten – weil auch fehlgeleitet – über die hohen Bordsteine der Schienen auf der Langen Brücke fahren, um zum Bahnhof zu kommen. Ein Passant: „Das sah aus wie kurz vorm Achsenbruch.“ Auch für andere Hilfsfahrzeuge werden die Gleise zum Problem, ebenso der Gegenverkehr auf der noch freien Spur. Die falsch gefahrenen Rettungswagen nennt Feuerwehrchef Hülsebeck später „normal“. In einer echten Krise käme so etwas sogar „noch öfter“ vor.

11.55 Uhr: Immer noch liegen etwa 15 Schwerverletzte im Gras unterm „Meyerohr“. Ärztin Fischer findet das aber „relativ normal“. In Berlin würde der Transport nach ihrer Erfahrung noch eine Stunde länger dauern: „Blöd ist es trotzdem, wenn man den Patienten nicht gleich helfen kann.“ Doch kommt nun der Abtransport der Verletzten besser voran, recht zügig erscheinen nun die Rettungswagen. Auch die gesperrte Spur der Langen Brücke wird in dieser Zeit wieder freigegeben. Patrick Schiele liegt da jedoch immer noch im Gras. Der 17-jährige ist Statist von der Freiwilligen Feuerwehr in Sacrow: „Ich habe mir laut Plan ein Bein gebrochen.“ Allerdings hat er Verständnis, dass er noch draußen liegt: „Die wirklich schwer Verletzten müssen zuerst weg.“ Zudem werde er regelmäßig gefragt, ob alles in Ordnung ist. 7.30 Uhr musste er aufstehen. Trotzdem macht es ihm Spaß: „Es ist spannend, wie die Leute so reagieren.“

12.20 Uhr: Langsam entspannt sich die Lage. Im Lustgarten funktioniert inzwischen die Essenversorgung: Es gibt Kartoffelsuppe und Bockwurst.

12.30 Uhr: Am Hinzenberg, dem Südzipfel des Lustgartens, wird derweil noch gearbeitet. Von dort bis zur Speicherstadt liegt seit 11.41 Uhr eine Ölsperre, die wie ein Schlauch rund 300 Meter lang über dem Wasser liegt. Träge treiben der Lösch-Schaum und das Holzspäne-Gemisch davor. Die Zeit bis die Sperre fertig war – erst 10.25 Uhr wurde wegen des ausgelaufenen Öls Alarm geschlagen –, nennt Brandoberinspektor Thomas Naumann „schnell genug“. Mit Wasserstrahlen von einem Boot und vom Ufer aus wird das „Öl“ nun zusammengeschoben. Dazu wird auf dem Wasser eine schwimmende Brücke aus großen blauen Plastequadern errichtet. „Bei solchen Übungen sehen wir, was überhaupt im Ernstfall da wäre“, sagt Naumann. Gerade mit der mobilen Brücke könnten schnell schwere Güter übers Wasser gebracht werden.

13.15 Uhr: Die Zeltstadt hinterm Bahnhof, in der Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz Verletzte behandelt haben, wird allmählich geräumt.

13.26 Uhr: Der Hubschrauber fliegt weg. 14.00 Uhr: Inzwischen haben sich die Helfer und Statisten auf dem Luisenplatz getroffen. In der Schlange vor der Essenausgabe wird diskutiert. Vom „Chaos im Behandlungsraum“ in der Grundschule am Humboldtring wird erzählt – oder von den „Fahrländern“, die „kaum Material“ dabei hatten.“ Nur Kollegen-Sticheleien?

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