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Landeshauptstadt: Mehr als eine Familienangelegenheit

1037 Potsdamer haben zu Weihnachten Geburtstag – der älteste ist Gerhard Fromme. Der frühere Lehrer wird am Sonntag 100

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Das Weihnachtsfest dreht sich für die meisten Menschen um einen Geburtstag – und der liegt 2011 Jahre zurück. Anders bei Gerhard Fromme: Der Potsdamer wurde am 25. Dezember 1911 geboren, morgen wird er 100 Jahre alt. Damit ist er das älteste aller 1037 Potsdamer „Christkinder“: 336 feiern an Heiligabend Geburtstag, 346 am 25. Dezember und 355 am 26. Dezember, wie ein Stadtsprecher den PNN sagte.

Dass Herr Fromme morgen gefeiert wird, ist aber mehr als nur eine Familienangelegenheit. Als langjähriger Physik- und Mathe-Lehrer dürfte er vielen Potsdamern ein Begriff sein – eine besondere Beziehung verbindet ihn allerdings mit seiner ersten Klasse, 1947 eingeschult an der Babelsberger Goetheschule, die damals noch Althoffschule hieß.

Als „Neulehrer“ hatte Fromme die Klasse übernommen und mit seinem einfühlsamen Wesen bei seinen Schülern bleibenden Eindruck hinterlassen. Die in Potsdam verbliebenen wollen ihrem Lehrer morgen einen Geburtstagsbesuch abstatten. Glückwunschkarten treffen aus ganz Deutschland und sogar Portugal ein, erzählt Jürgen Huckewitz, der die Kontaktpflege zu seinen ehemaligen Mitschülern besonders rege betreibt – und der die Klasse 2009 nach mehr als 50 Jahren zu einem Klassentreffen wiedervereinte.

„Wir sind ja zerstoben in alle sieben Winde“, sagt der studierte Elektrotechniker, der selbst 70 Jahre alt ist. An die erste Unterrichtsstunde mit Fromme erinnert er sich trotzdem genau: Weil die Klasse so groß war, wurden die Jungen im Zeichensaal der Schule unterrichtet. Um ihnen den Buchstaben „A“ beizubringen, malte Fromme einen Apfel an die Tafel. „Obwohl er ja nie Pädagogik studiert hat, hat er uns mit Liebe unterrichtet – wir sind einfach gerne zur Schule gegangen.“

Dabei war Fromme eigentlich Schlosser. Den Beruf hatte er im Luftschiffhafen gelernt, wie seine Tochter Monika Wegener erzählt. Als Soldat im zweiten Weltkrieg sei er dann in englische Gefangenschaft geraten. Als er nach dem Krieg nach Potsdam zurück kam, ließ er sich in einem Kurs als „Neulehrer“ ausbilden. Seine erste Klasse übernahm er an der Babelsberger Althoffschule.

Die Situation in Potsdam war damals noch „derbe“, wie Huckewitz es ausdrückt: Stromsperren gehörten zur Tagesordnung, Lebensmittel waren knapp. Und so konnte es vorkommen, dass Mitschüler hinter Pferdefuhrwerken herliefen, um mit einer Stange ein paar Kartoffeln zu klauen. In der Turnhalle wurden ab und zu Speisen für Bedürftige ausgeteilt – die „Quäkerspeisung“, finanziert von der gleichnamigen Religionsgemeinschaft. Andere Schüler hatten nicht einmal vernünftige Schuhe und halfen sich mit selbstgebastelten Pantinen – „Klapperschuhen“ – über die Runden. Immer wieder verschwanden Klassenkameraden zudem über Nacht, weil sie mit ihrer Familie aus der späteren DDR flüchteten.

Für Huckewitz und die anderen wird Fromme in dieser Zeit zur Vertrauensperson, zur festen Größe. Er bringt ihnen nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen bei, sondern unternimmt zum Beispiel auch Ausflüge in die Ravensberge, um dort Maikäfer zu beobachten. „Der Mann war war einfach mit ganzem Herzen dabei“, sagt Huckewitz.

Umso größer der Schock, als der Lehrer eines Tages nicht mehr da war. Es war der erste Tag nach den Sommerferien, die Kinder waren in die dritte Klasse gekommen. In den Ferienwochen hatte Fromme mit ihnen noch kleine Schiffchen gebaut. Nun war er weg, ohne ein Wort des Abschieds. „Wir konnten das nicht glauben“, erzählt Huckewitz: „Viele von uns hatten Tränen in den Augen.“

Monika Wegener, Gerhard Frommes Tochter, weiß, was damals passiert ist: Der Lehrer ist plötzlich an die Schule in Bornstedt berufen worden – und der Abschied von „seinen“ Kindern wäre ihm zu nahe gegangen. Jahrelang war Fromme in Bornstedt Direktor, unterrichtete zudem Mathematik und Physik.

Ihren Vater beschreibt Monika Wegener als „Naturmenschen“: Seine Frau Ilse habe er beim Bergsteigen kennengelernt, später verbrachten die beiden ihren Urlaub beim Camping an der Ostsee. Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1998 blieb Fromme, der zwei Enkeltöchter hat, allein. Seit einem Sturz im Jahr 2006 wohnt er im Pflegeheim St. Franziskus in der Kiepenheuerallee.

Dort wollen ihn auch seine Schüler morgen besuchen. Mehr als 50 Jahre vergingen, ehe sie ihn wieder ausfindig machten – bei der Vorbereitung des Klassentreffens 2009, wie sich Jürgen Huckewitz erinnert. Mit 18 ehemaligen Schülern ist er heute in Kontakt. Zumindest die Potsdamer unter ihnen wollen dem Jubilar am ersten Weihnachtsfeiertag persönlich gratulieren: „Wenn Herr Fromme Geburtstag hat, kommen alle mit.“

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