Landeshauptstadt: Meiers Busfahrt in die Stadt
Alter steht, Schönheit sitzt – und auch dieTaschen der Studenten brauchen einen Platz
Stand:
Ergeben stellte sich unser 70-jähriger Golmer Mitbürger Meier auf einen überfüllten Linienbus ein, als der für die Studenten eingeführte X5er wie gewohnt fast leer an der Haltestelle vorbeirauschte. Und richtig: Der folgende 606er war von den Herren und Damen Kommilitonen voll belegt, zur Hälfte von ihnen selbst, zur anderen von ihren Rucksäcken und Taschen. Das heißt, ein Randplätzchen erspähte Meier noch. Bei Versuch, es zu erreichen, bekam er aber von einem (Sport?)Studenten einen kräftigen Stoß vor die Brust, der ihm mit dem flotten Spruch „Schönheit geht vor Alter“ die Sitzgelegenheit wegschnappte.
Meier resignierte, suchte das Gespräch mit einer über 80-Jährigen am Stock und stützte einen zwergwüchsigen Bekannten, die von der heranwachsenden intellektuellen Elite ebenfalls gnadenlos stehen gelassen wurden. Der Kleine wollte am Neuen Palais raus und bat den Fahrer, ihn ausnahmsweise vorn aussteigen zu lassen. „Klar“, sagte der, „für dich tu ick alles.“ Vielleicht haben beide ja zusammen Schweine gehütet. Von dem kleinen Bekannten wusste Meier, dass er diplomierter Kulturwissenschaftler ist. Was der Busfahrer studiert hat, war ihm unbekannt – einen Kurs in „Benimm“ aber auf keinen Fall.
Doch vielleicht einen Lehrgang als Fremdenführer? Am Bahnhof Park Sanssouci von drei holländischen Touristen gefragt, wie sie denn zu Schloss Sanssouci kämen, antwortete er prompt: „Da müssen Sie durch den Park loofen.“ Der hilfsbereite Meier wollte die Touristen auf den Bus 695 hinweisen, der sie bis vors Schloss gebracht hätte, aber die Mauer der Studenten versperrte ihm den Weg. So sah er die Holländer in Nieselregen und Schneetreiben entschwinden.
Positiverweise ergatterte unser Golmer Mitbürger jetzt einen Sitzplatz, bevor ein Student seine Tasche darauf stellen konnte. Allerdings behielt er ihn nur bis zur nächsten Station. Dort hinkte ein Jüngling mit eingegipsten Füßen in den Bus. Meier konnte nicht anders, er bot ihm seinen Platz an. Sogleich ertönte von hinten eine laute Frauenstimme: „So iss det. Der Olle steht auf, und die Jungen bleiben sitzen.“ Unter der studentischen Jugend erhob sich dumpfes Murren. Der (Sport?)Student teilte Meier mit, seine Aktion diene der Verächtlichmachung der Studentenschaft und sei nur vor einem rechtsradikalen Hintergrund zu erklären. Ehe die Situation eskalieren konnte, verließen die Kommilitonen an den Innenstadtstationen schubweise den Bus. Die Unterhaltung der Fahrgäste nahm nun der Busfahrer in die Hand. An der Feuerbachstraße stieg ein ortsfremder Schüchterling ein und fragte zart: „Fahren Sie zum Bahnhof?“ „Wat für’n Bahnhof? Rostock etwa?“ klang es zurück. Am Luisenplatz drängten Touristen durch die Mitteltür in den Bus. Der Fahrer mit Donnerstimme: „Vorna wird einjestiegen!“ Inzwischen hatte die 80-Jährige am Stock neben Meier einen Sitzplatz gefunden. „Ach wissen Sie, unerzogene Jugendliche und unfreundliche Busfahrer gab es schon immer“, meinte sie in Altersweise. „Darüber hat meine Mutter bereits vor mehr als 20 Jahren an die BNN geschrieben.“ Der interessierte Meier kramte im Archiv nach, und siehe da, er hat den Leserbrief gefunden:
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