Landeshauptstadt: „Meine Tochter geht nirgendwo hin“
Hannah Pick-Goslar sprach in der Voltaire- Schule über ihre beste Freundin, die Tagebuch- Autorin Anne Frank
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Hannah Tröger hat im Unterricht einmal einen Text über Hannah Pick-Goslar geschrieben. Und nun steht sie ihr gegenüber, der 78-jährigen Frau, die den gleichen Vornamen hat wie sie. Hannah, die Jüngere, geht in die 9. Klasse der Voltaire-Gesamtschule. In ihrer Altersklasse ist der Name häufig zu finden, in der Generation der älteren Dame nicht. Jedenfalls nicht in Deutschland. Hannah Pick-Goslar ist Jüdin und Überlebende des Holocaust. Und sie war die beste Freundin von Anne Frank, der Autorin des berühmten Tagebuchs. Die Geschichte dieser Mädchenfreundschaft im Amsterdam der Jahre 1939 bis 1942 kennt Hannah Tröger aus dem Buch Hannah Pick-Goslars „Erinnerungen an Anne Frank“. Gestern aber hörte sie die Geschichte direkt aus ihrem Mund. Hannah Pick-Goslar besuchte ihre Schule.
Das erste Mal sehen sich Hannah und Anne in einem Laden, in dem beide Mütter einkaufen. Auch die Eltern von Anne Frank wohnen am Merwedeplain in Amsterdam-Süd. Dann treffen sie sich im Kindergarten wieder. Sie haben viel gemeinsam: „Anne und ich, wir waren sehr lebendig“. Hannahs Mutter sagte immer: „Gott weiß alles, doch Anne weiß alles besser.“ Zur Freude ihrer Mitschüler konnte sich Anne Frank selbst, „knack, knack“, die Schulter ausrenken. Später in der Schule schrieb sie häufig etwas auf. Wurde sie danach befragt, sagte Anne, „das geht dich nichts an“. In das berühmte Tagebuch konnte sie damals noch nicht geschrieben haben, das begann sie erst drei Wochen bevor sie im Versteck untertauchte.
1939 haben die Kinder noch frohe Tage. Sie leben einfach. „Damals brauchten wir noch keine Nike-Turnschuhe und Tommy-Hilfiger-Klamotten.“ Auf einem Foto von einer Feier sind Juden und Holländer in trauter Gemeinsamkeit zu sehen; darunter auch Holländer, die dann Nationalsozialisten wurden.
Nach der Besetzung Hollands werden antijüdische Gesetze erlassen. Sie müssen einen gelben Stern tragen und dürfen nur jüdische Schulen besuchen. „Man darf an Juden keine Seife verkaufen“, war auch so eine Vorschrift. „Ihr könnt Euch Euren Teil dabei denken“, sagt Hannah Pick-Goslar. Nachts müssen alle Juden zu Hause sein – „damit sie uns abholen können“. Die Juden werden in „Arbeitslager im Osten“ gebracht, wurde gesagt. „Ihr werdet alle in Auschwitz vergast“, das sagten die Deutschen nicht. „Wir hätten es ihnen auch nicht geglaubt.“ Dass ein Kulturvolk ein Gas erfindet, mit dem ein anderes Volk vernichtet werden soll, daran war nicht zu denken.
1942 wird Hannahs 15-jähriger Freund Peter zusammen mit 400 anderen Jugendlichen in ein „Arbeitslager“ abtransportiert. In der amtlichen Aufforderung heißt es, sie sollen Arbeitsschuhe und Schuhe für Sonntags einstecken. Nach sechs Wochen bekommen die Eltern einen Brief, wonach ihre Kinder an schweren Krankheiten verstorben sind. Wie sich später herausstellt, war den Sekretärinnen, die diese Briefe tippten, Listen mit den Bezeichnungen von Krankheiten gegeben worden, aus denen sie die Todesursachen auswählten. Der Tag, an dem Peter deportiert wurde, war der Tag, an dem die Familie Frank ins Versteck ging. Annes Vater sagte: „Meine Tochter geht nirgendwo hin“. Recht hatte er, sagt Hannah Pick-Goslar, Anne hat so noch zwei Jahre gelebt – „und wir haben das Tagebuch“.
Im Oktober 1940 wird Hannahs Schwester Gabriele geboren. Sie selbst ist da zwölf Jahre alt. Zwei Jahre später ist ihre Mutter wieder schwanger, aber sie und das Baby sterben bei der Geburt. Als ihre Familie 1943 ins KZ Westerbork gebracht wird, kämpft Hannah um das Überleben der kleinen Gabi. Drei Glücksfälle kommen ihr zu Hilfe: Als Gabi an Mittelohrentzündung erkrankt, glückt eine Operation, so dass der Eiter abfließen kann. Als sie selbst an Gelbsucht erkrankt und in die Quarantäne-Baracke muss, findet sie eine jüdische Frau, die sich um Gabi kümmert, obwohl diese selbst schon acht Kinder hat. Und Hannah schafft es, Milch zu ergattern, die eigentlich für Kinder unter drei Jahren bestimmt ist. Da ist Gabi aber schon drei Jahre und fünf Monate alt. Zwei Glas Milch pro Woche, ohne die wäre ihre Schwester wohl gestorben, glaubt Hannah Pick-Goslar, die später Krankenschwester wurde, weil sie im KZ nur ein Buch hatte, eines über Florence Nightingale, das sie immer wieder las.
Hannah Pick-Goslar hat Anne Frank nie wiedergesehen, zwei Mal aber konnte sie sie noch sprechen, nachts durch einen Stacheldrahtzaun im KZ Bergen-Belsen. Das Versteck der Franks in Amsterdam war verraten worden, Anne kam erst nach Auschwitz, dann nach Bergen-Belsen. Beim zweiten Versuch gelingt es Hannah, ihrer Freundin Anne etwas zu Essen über den Zaun zu werfen. „Ich habe niemanden mehr“, sagt Anne schwach. Kurz vor der Befreiung von Bergen-Belsen am 15. April 1945 stirbt Anne Frank an Entkräftung. Hannah fragt sich: „Vielleicht hätte sie überlebt, wenn sie gewusst hätte, das ihr Vater noch lebt?“ Sie selbst wird bewusstlos aber lebend von russischen Soldaten beim brandenburgischen Tröbitz aus einem Viehwaggon gerettet, der als „Zug der Verlorenen“ in die Holocaust-Geschichte eingeht.
Nach dem Vortrag geht Hannah Tröger zu Hannah Pick-Goslar und stellt sich vor. „Na, hat alles gestimmt?“, fragt die Ältere schmunzelnd, als sie hört, das die Schülerin schon soviel über sie weiß. Hannah Tröger nickt. Was sie bewundert, ist die Kraft, die die Holocaust-Überlebende noch immer ausstrahlt.
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