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Landeshauptstadt: Mickey-Maus-Stimmen im Ohr

Eine Innenohr-Prothese verschafft tauben Menschen Gehör. Der Weg vom Hören zum Verstehen aber ist lang

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Eine Innenohr-Prothese verschafft tauben Menschen Gehör. Der Weg vom Hören zum Verstehen aber ist lang Von Nicola Klusemann Cindy Spranger ist 25 Jahre alt und lernt gerade Hören. Vor knapp einem Jahr hat sich die von Geburt an Schwerhörige eine Innenohr-Prothese einsetzen lassen, weil sie hören wollte, wie ihr kleiner Sohn sprechen lernt. Kevin ist jetzt 19 Monate alt und brabbelt schon emsig vor sich hin. Erst vor wenigen Tagen habe sie klar wahrgenommen, wie ihr Kind den Hund beim Namen rief. Ein Glücksmoment für die junge Mutter, den sie durch häufiges Erzählen immer wieder erleben will. In Andrea Kroße hat sie eine dankbare Zuhörerin, obwohl die Sprachtherapeutin ansonsten diejenige ist, die Hörsätze vorgibt. Im Hörtherapiezentrum in der Potsdamer Waldstadt erfolgt die Anpassung des so genannten Cochlear Implantats (CI). Ein manchmal mühsamer Weg, bis der von der Prothese in Impulse umgewandelte Klang vom Gehirn erkannt wird. „Das wird um so schwerer, wenn der Verstand nicht auf bekannte Sprach- oder Geräuschmuster zurückgreifen kann“, erklärt die diplomierte Medizin-Pädagogin. Werde jemand durch Krankheit oder Unfall taub, falle ihm der Umgang mit dem CI in der Regel leichter. Ein seit der Geburt geschädigtes Ohr hingegen hört mit der Prothese zum ersten Mal richtig. „Und doch ganz anders als ein gesundes Ohr“, erklärt der Leiter des Hörtherapiezentrums und Physiker, Dr. Andreas Dahme. Was die frisch operierten Patienten wahrnähmen, sei zunächst ein helles Rauschen, das er per Computer zu einem Klangteppich auseinander ziehen müsse. Stimmen klängen wie die von Mickey Maus, egal ob von einem Bariton oder von einer Sopranistin gesprochen. Anders als ein Hörgerät, das wie ein Verstärker arbeitet, steuert das CI direkt den Hörnerv an. Andreas Dahme, der Herr über die reinen Töne, verkabelt den Sprachprozessor am Ohr mit dem Rechner unter seinem Schreibtisch und spielt auf der Tastatur Klavier. Von tiefen 120 Hertz bis hohen 8500 Hertz spielt er die Tonleiter ab. Erst ganz leise. Cindy Spranger reagiert nicht. Dann ein bisschen lauter und lauter. Mit einem deutlichen „Ja“ gibt sie an, dass sie hört. Von Außen hat Andreas Dahme Zugriff auf das Elektrodenbündel in ihrem Innenohr. Der feine Draht liegt in dem schneckenförmigen Cochlear. Bis in die letzte Windung reichen die Klangwandler allerdings nicht. Während der Normalhörende 50 Töne unterscheide, müsse beim CI-Träger das gesamte Spektrum auf nur 20 Elektroden gelegt werden. Auch die empfangene Lautstärke wird individuell angepasst. Der batteriebetriebene Minicomputer wird mit einem Bügel ins Ohr eingehängt. Von dort führt ein kleines Kabel zu einem Magneten auf der Haut, der dafür sorgt, dass der implantierte Empfänger richtig sitzt. Rund 40000 Euro kostet die Prothese, auf dessen Einsatz sich das Unfallklinikum Berlin-Marzahn spezialisiert hat. Rund 10000 Jugendliche und Erwachsene ertaubten durch Unfall, durch Krankheit oder zu laute Musik jährlich in der Bundesrepublik, zitiert Uwe Högemann, Vorsitzender der Gesellschaft für Integrative Hörrehabilitation e.V. aus der Statistik. Vielen von ihnen könnten durch ein CI das Hören wieder erlangen. Högemann dokumentiert damit auch den Bedarf an einem Therapiezentrum, das im Frühjahr 2004 in Trägerschaft seines Vereins und mit der AWO als Betreiber die Arbeit aufnahm. Rund 150 jugendliche und erwachsene Patienten aus Berlin und Brandenburg haben seit dem die von den Krankenkassen bezahlte Anpassungsleistung in Anspruch genommen oder befinden sich noch in Therapie. Kinder mit Cochlear Implantat werden in einer Einrichtung in der Hauptstadt nachbetreut. Als sie klein war, kam Cindy Spranger ins Internat nach Putbus auf Rügen – zur Frühförderung. Dort lernte die Berlinerin vor allem, mit ihrer angeborenen Behinderung zu leben. Bis zu ihrer Operation vor einem Jahr hat sie sich mit einem Hörgerät, Gebärdensprache und Lippenlesen geholfen. Den Geräuschetest bei Sprachtherapeutin Andrea Kroße legt sie deshalb auch mit Bravour ab. Den einzigen Laut, den sie nicht zuordnen kann, ist die Kuckucksuhr. Wohl, weil die 25-Jährige noch nie zuvor ein Chronometer vom Schwarzwälder Kunsthandwerk hat anschlagen hören. Ähnliches passiert auch mit Worten, die sie nicht kennt. Das mache das Satztraining besonders schwierig. So lange die junge Mutter von den Lippen ihrer Therapeutin ablesen kann, kombiniert sie einfach den Satzsinn. Hört sie einen Übungssatz nur – abgespielt von einer CD – wie zum Beispiel „Er hat heute einen Arzttermin“ oder „Ist das Flugzeug gestartet?“, vermischten sich die für das untrainierte Ohr zu schnell gesprochenen Worte oftmals zu unverständlichem Kauderwelsch. Sie beginnt zu raten – nur Bruchstücke. „Das müssen wir noch üben. Das wird schon“, macht Andrea Kroße ihr Mut. Die Sprachtherapeutin wählt daraufhin das Trainingsprogramm mit den Zahlen, damit ihr Gegenüber noch ein kleines Erfolgserlebnis mit nach Hause nehmen kann. Auch mit eingespieltem Rauschen hört sie die gesamte Zahlenkolonne richtig. „Prima“, lobt die Medizin-Pädagogin ihre Patienten. Cindy Spranger atmet auf und lächelt schüchtern. Der nächste Sitzungstermin ist Ende August. Bis dahin wird Sohn Kevin eine Menge neue Worte gelernt haben. Eine gute Trainingseinheit für seine Mutter, die üben wird, die Worte zu verstehen, ohne dabei auf den Kindermund zu schauen.

Nicola Klusemann

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