Homepage: Mit der Entscheidung allein gelassen
Wie wurden die Grenzsoldaten der DDR diszipliniert? Ergebnisse eines Projektes am ZZF vorgestellt
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Hunderte DDR-Bürger kamen auf der Flucht in den Westen ums Leben. Getötet von Minen, Selbstschussanlagen oder Maschinengewehrsalven. Die Aufrechterhaltung des „Grenzregimes“ war Lebensgrundlage der SED-Diktatur. Eine Flucht galt als Angriff auf den Sozialismus und sollte mit allen Mitteln verhindert werden. In letzter Konsequenz hieß das im Jargon von Stasichef Mielke, „Grenzverletzer sind zu vernichten“. Doch wie brachte man den „einfachen“ Soldaten dazu, auf Flüchtlinge zu schießen?
Dieser Frage geht der promovierte Polizeihistoriker Gerhard Sälter in einem Projekt zur Disziplinierung von DDR-Grenzern nach. Vergangene Woche hat er im Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), das derzeit in Kooperation mit dem Dokumentationszentrum an einem Forschungsprojekt zu den Mauertoten arbeitet, seine Thesen vorgestellt.
Wie konnten DDR-Grenzer vom „rücksichtslosen“ Schusswaffengebrauch überzeugt werden, wenn die alltägliche Wirklichkeit kaum in das verordnete Weltbild der SED passte? Der „antifaschistische Schutzwall“, wie die SED ihr mörderisches Bollwerk nannte, galt ja gerade den eigenen fluchtwilligen Bürgern und nicht vermeintlichen West-Agenten. Ab 1952 wurden die Grenzanlagen stetig ausgebaut und perfektioniert. Parallel dazu rüstete man die Grenzpolizei bzw. die ab 1962 dem Verteidigungsministerium unterstehenden Grenztruppen immer stärker militärisch aus.
Die meisten Soldaten standen wohl weder politisch noch moralisch hinter den Tötungen. Ihre individuelle Bereitschaft, so Sälter, musste erst erzeugt werden. Dazu entwickelten die Verantwortlichen in Partei und Staat ein ausgeklügeltes Überwachungs- und Sanktionssystem: Die politische „Schulung“ stand ebenso auf dem Programm wie militärischer Drill und drakonische Strafen für kleinste Vergehen. Im Falle eines „Grenzdurchbruchs“ sollte die Hemmschwelle zur gezielten Tötung möglichst niedrig gehalten sein. So war man sehr darauf bedacht, Grenzsoldaten fernab ihres Heimatortes einzusetzen und jegliche Kontakte in die Umgebung zu unterbinden. Sie wurden kaserniert und durften sich außerhalb der Dienstzeit nur in Gruppen bewegen. Soziale Kontakte, die es erlaubt hätten, über den harten Grenzalltag zu erzählen, sich Rückhalt zu holen, sollten verhindert werden. Hinzu kam eine lückenlose Überwachung durch das MfS.
Doch was geschah, wenn – im eher seltenen Falle – tatsächlich jemand versuchte, die Grenze zu überwinden, eine Situation, die die meisten Soldaten fürchteten? Sälter zufolge waren weder politische Indoktrination noch drohende Strafverfolgung maßgebliche Auslöser. Die Entscheidung zu schießen, musste letztlich der einzelne Soldat fällen. Und dabei wirkten, so seine zentrale These, im wesentlichen Mechanismen, die auf militärischem Gehorsam und eingeübten Routineabläufen beruhten.
Damit ließe sich auch die in der Diskussion gestellte Frage nach dem „Schießbefehl“ klären. Hans-Hermann Hertle, ausgewiesener in „Mauer-Spezialist“ vom ZZF, verwies darauf, dass es „den“ Schießbefehl zwar nicht gab, wohl aber entsprechende Dienstanweisungen. Letztlich sei der Soldat als schwächstes Glied in der Kette Material-Technik-Mensch mit der Entscheidung allein gelassen worden. Ganz bewusst habe die SED-Führung eine klare Befehlsstruktur vermieden und die Verantwortung nach „unten“ abgeschoben. Carsten Dippel
Carsten Dippel
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