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25 Jahre Brandenburg: Mit der Heimat im Gespräch

Potsdam und Brandenburg haben in den 25 Jahren seit der Wiedervereinigung einen fundamentalen Wandel durchlebt. Die Potsdamer Schriftstellerin Julia Schoch schreibt über den Verlust an eigener Geschichte in Architektur und kultureller Landschaft. Ein Zwiegespräch.

Stand:

Die Unterhaltung fand nachts statt, auf dem Dach der neu erbauten königlichen Residenz, dort, wo tagsüber die Volksvertretung des Landes tagt.

Julia Schoch: Hallo? Sind Sie noch wach? Verzeihen Sie bitte, aber mir war nicht klar, dass Sie schon schlafen. Ist ja erst kurz vor elf.

Heimat: Ich schlafe ja gar nicht.

Julia Schoch: Ach so? Sah aber ganz danach aus. Auf den ersten Blick jedenfalls. Ist ja auch durchaus ein schönes Plätzchen für ein Nickerchen, angenehm duster. Allerdings ... für den Mittelpunkt eines Landes recht wenig los hier, finden Sie nicht?

Heimat: Das Parlament schließt gegen 19 Uhr. Und in dem Hochhaus nebenan gehen nachts auch nicht sehr viele Lichter an. Seltsam, es soll sich um ein Hotel handeln ...

Julia Schoch: Wahrhaftig ein Schandfleck neben soviel Historischem!

Heimat: Hysterischem?

Julia Schoch: HISTORISCHEM! Ich zitiere nur den Volksmund. Den meisten Bewohnern der Stadt geht der Klotz neben dem schmucken Schloss gegen den ästhetischen Strich.

Heimat: Ist es von Belang, was die Leute denken?

Julia Schoch: Zumindest geht es darum, was ich von Ihnen halte. Ich soll über unsere Beziehung schreiben. Darüber, wie wir, Sie und ich, uns verändert haben, also das, was zwischen uns war oder vielmehr ist.

Heimat: Veränderungen werden überschätzt. Im Laufe der Jahrzehnte gewöhnt man sich an fast alles. Übrigens hat man eine ganz schöne Aussicht vom oberen Geschoss des Betonklotzes auf mich. Aber das interessiert kaum jemanden. Sie vermutlich auch nicht. Wer sind Sie überhaupt?

Julia Schoch: Sie irren sich, Aussichten haben mich immer interessiert. Vor allem die Aussicht von einem Hochhaus. Als Kind waren Hochhäuser in meinen Augen der Inbegriff von Zukunft und Fortschritt. Außerdem standen sie für das große Leben. Und das große Leben wollte ich, unbedingt! Sie können sich vorstellen, wie glücklich ich war, als meine Eltern Mitte der 1980er-Jahre mit uns Kindern aus der Provinz nach Potsdam zogen, in eine Siedlung aus Wohntürmen am Rande der Stadt. Das Haus war gerade erst erbaut und so frisch, dass beim Einzug noch der Beton zu riechen war. Damals hieß es, man wolle die Nuthe, das trübe Flüsschen, das in der Nähe floss, umleiten, zwischen den Häusern hindurch, mit Kanälen, Brücken und Teichen. Die Errichtung eines Klein-Venedig. Natürlich hatten wir alle über Jahre hinweg dort nur den Bausand in den Schuhen. Wie immer fehlte es an Material, dem guten Willen ... ach, lassen wir das. Trotzdem habe ich Sie angehimmelt.

Heimat: Zugezogen, hm? Sie sind also gar keine Einheimische.

Julia Schoch: 30 Jahre, ich bitte Sie! Im Grunde bin ich länger hier als Sie, denn damals gab es Sie ja gar nicht. Schließlich waren wir nicht nach Brandenburg, sondern in den Bezirk Potsdam gezogen, Sie erinnern sich vielleicht ...

Heimat: Sachte. Ich hatte damals nur eine kleine Pause eingelegt. Manchmal muss man eine Pause machen, bevor man zum Alten zurückkehrt.

Julia Schoch: Mein Leben damals fiel zufällig in diese Pause. Brandenburg, das war etwas ganz anderes, aus einer gänzlich anderen, alten Zeit. Potsdam hingegen ... Der Nabel des Landes! Wohnen, wo andere Urlaub machen! Berauschendes Grün, überwältigende Mengen an Obst, und dann die Luft ... In meiner Klasse gab es einen Jungen, der an Asthma litt. Seine Eltern waren extra aus diesem Grunde hierhergezogen, der Luft wegen, die die frischeste und reinste im ganzen Land gewesen sein soll.

Heimat: Und was ist aus dem Hochhaus und Ihrem Friede-Freude-Zukunftstraum geworden?

Julia Schoch: Eine kindliche Schwärmerei. Hat sich später aufgelöst, sozusagen über Nacht. Die Zeichen des Fortschritts wurden lächerlich. Sie, meine Liebe, hatten inzwischen begonnen, sich wie unter Zwang in Ihr eigenes historisches Kulissenbild zurückzuverwandeln. Alles was in der Pause, wie Sie es nennen, entstanden war, verschwand. An der Stelle erstanden die Phantome einer Märchenarchitektur wieder auf, Sie wissen schon: Schlösser, Kirchen, Villen, Kanäle ... Ich hoffe nur, es wird dereinst, wie es so schön heißt, auch genug Postkarten von meiner Zeit, der Pause, geben, damit ich meinen Kindern die Sache erklären kann.

Heimat: Spielen Sie doch nicht die beleidigte Leberwurst. Wie ich sehe, sind ja immer noch hier, so schlimm kann’s also nicht sein.

Julia Schoch: Trotzdem müssen Sie zugeben, dass es nicht sonderlich tröstlich ist, Auslöschungen beizuwohnen. Ist Heimat nicht dort, wo die eigene Geschichte eine Rolle spielen darf? Hm. Gar nicht schlecht. Vielleicht fange ich so meinen Artikel an: Heimat ist da, wo die Vergangenheit zu ihrem Recht kommt, anstatt ausgelöscht zu werden ...

Heimat: (gähnt)

Julia Schoch: Schließlich geht es nicht darum, wo man geboren ist, sondern wo man eine bestimmte Geschichte spürt, an die man andocken kann. Heimat ist Geborgenheit durch Vertrautheit. Beim Einheimischsein gehts um Vergangenheit, erst danach kommt alles andere, zum Beispiel der Schick. So gesehen wird es immer unmöglicher, einheimisch, also ein Bewohner von Heimat zu sein.

Heimat: Sagen Sie, was Sie wollen. Aber tun Sie bitteschön nicht so, als wären Hochhäuser mein Markenzeichen! Verbinden Sie denn gar nichts mit meiner Landschaft? Sie kennen doch hoffentlich das viele Wasser und die Ortschaften ringsherum? Sind in den letzten Jahren wieder ganz reizend geworden. Wenn ich daran denke, wie die früher ...

Julia Schoch: Mein Mann kommt aus einem Ort an der Südspitze des Schwielowsees ...

Heimat: Herrliche Gegend ...

Julia Schoch: In seiner Kindheit gab es dort ein Erholungsheim. Es stammte aus den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Später, im Sozialismus, machten die Werktätigen dort Urlaub. Terrassencafé, Balkons mit Blick auf den See, Eisdiele, Billard. Als er mich das erste Mal in den Ort mitnahm, gab es das Heim nicht mehr. Ein Investor aus Westdeutschland hatte es ein paar Monate zuvor abreißen lassen und an der Stelle ein Schild aufgestellt: Hier entsteht das Starnberg des Ostens. Das war im Frühjahr 1994.

Heimat: Die 1990er-Jahre! Eine Goldgräberzeit, fürwahr, alle hatten Großes vor.

Julia Schoch: Natürlich wollten alle in Starnberg Urlaub machen, aber nicht in dem des Ostens. Um es abzukürzen: Der Investor ging pleite. Übriggeblieben ist eine schlichte, weiße Häuserzeile. Dieses typische Verputzweiß, das nach ein paar Jahren märkischen Klimas eine dunkel-schmutzige Färbung annimmt. In dem Allerweltsneubau hat eine chemische Reinigung genauso Platz wie ein China-Restaurant. Es gab sogar mal eine Bar darin. Aber wenn einer der Einwohner ein Bier trinken wollte, ging er nicht in die Bar in der neuen weißen Häuserzeile, sondern in seine Stammkneipe. Ich glaube, mein Mann war ziemlich erleichtert, als er mich das erste Mal ins Willkommen mitnahm und es mir dort gefiel. Es handelte sich um einen ehemaligen Tanzsaal mit ein paar Tischen darin. Die Stammgäste redeten sich gegenseitig mit Klötenjohnny, Fischbüchs oder Stahlweste an. In meiner Studentenzeit erschienen mir die Wochenenden dort ein fabelhafter Ausgleich zu einem Seminar über, sagen wir, strukturalistische Textanalyse. Die Welt wird einfach, wenn man Sätze hört wie: Quatsch nich’ und trink!

Heimat: Eine erfrischende Sachlichkeit war schon immer das Merkmal meiner Leute.

Julia Schoch: Schon möglich. Aber was heißt das heutzutage noch – Ihrer Leute? Das Einheimische verblasst. Die Orte werden ortlos. Als ich zum ersten Mal im Willkommen auftauchte, drohte bereits der Abriss. Es kamen nur noch ein paar Übriggebliebene. Sie besetzten den Stammtisch, der Rest des Saals wurde nicht mal mehr beleuchtet.

Heimat: Klingt nach Endzeitstimmung.

Julia Schoch: Jetzt, wo Sie’s sagen ... Wenn ich damals irgendwo in der märkischen Landschaft herumlag, dachte ich tatsächlich oft: So muss der letzte Tag im Frieden sein.

Heimat: Nun hören Sie aber auf.

Julia Schoch: Seltsam, nicht? Denn in Wahrheit hatten wir alle wahnsinnig viel Zeit. Niemand und nichts wollte etwas von uns. Ich erinnere mich, am Ufer des Schwielowsees für das Große Latinum gelernt zu haben, allerdings mehr aus romantischen Gründen. Wenn ich mich zwischen den Kiefern am Ufer irgendeines Sees wiederfand, dachte ich meistens, das ist alles viel zu schön, um etwas zu tun! Im Sommer liefen wir oft runter zu einem kleinen Bootsverleih im Ort, eine Bude und zwei, drei Tische davor, an denen – Sie ahnen es – Bier getrunken wurde. Das Ensemble wurde von den Einheimischen ironisch Jachthafen genannt. Inzwischen gibt es dort tatsächlich einen Jachthafen, mit echten Jachten. Die neuen Bootsbesitzer nennen ihn Marina.

Heimat: Ganz ohne Ironie, vermute ich.

Julia Schoch: Manchmal drehten wir ein paar Runden im Ruderboot. Oder wir fuhren auf dem alten Segelboot eines Freundes mit. Am Ufer wurde Ihre Landschaft damals gerade von einem neuen Hotel-Resort zerteilt, dessen lauschig am Ufer gelegenes Freiluftrestaurant Ernesto heißt, Spezialisierung auf Zigarren und Rum. Wir lagen auf dem Boot und ließen uns über den See trudeln. Wenn wir auf einer der Sandbänke landeten, musste der kräftigste der jungen Männer an Bord ins Wasser. Unter den Anfeuerungsrufen der anderen schob er das Boot soweit an, bis der Kiel wieder frei schwamm. (Das Boot hatte einen für den See viel zu tiefen Kiel, weswegen man nicht wirklich damit segeln konnte, jedenfalls nicht auf dem Schwielowsee, aber natürlich ging es bei den Touren keinem an Bord ums Segeln).

Heimat: Hochhaus und Zukunft. Boot und Bier ... Herrje. Und das wollen Sie publik machen?

Julia Schoch: Es waren die heitersten Stunden meines Lebens, eine lustige Begleitung der neuen Zeit, aus der wir immer mehr vertrieben wurden, wie es schien. Wir hatten plötzlich den Eindruck, nur noch Besucher in der eigenen Heimat zu sein. Da, wo alles Fassade wird, fühlt man sich naturgemäß eher als Besucher anstatt beheimatet.

Heimat: Fassade! Tragen Sie doch nicht so dick auf. Was wollen Sie? Heimat ist da, wo das Herz ist. Reicht das nicht?

Julia Schoch: Heimat ist da, wo die Toten begraben sind. Begraben sein dürfen.

Heimat: Du lieber Himmel! Sie sollten sich wirklich eher der Gegenwart zuwenden als ständig dem Vergangenen.

Julia Schoch: Als täten Sie nicht dasselbe! Allerdings muss es in Ihrem Fall mindestens zweihundert Jahre alt sein, sonst darf es nicht stattgefunden haben.

Heimat: Hm ... Ich nehme an, das Willkommen existiert nicht mehr?

Julia Schoch: Natürlich nicht. Ende der 1990er-Jahre war Schluss. Das Haus wurde abgerissen. Jetzt kann man dort eine Ansammlung unterschiedlichster Designhäuser bewundern, amerikanische Villen, blau glänzende Schindeln, Säulen vorm Eingangsbereich, eins scheußlicher als das andere. Die Seewiese, die früher öffentlich war, ist wegen möglicher Lärmbelästigung der Anwohner gesperrt.

Heimat: Hört sich an wie dieses großartige Vorzeigeprojekt, ein paar Kilometer weiter, Richtung Autobahn. Ein weitläufiges, von künstlichen Hügeln und Senken durchzogenes Gelände, auf dem man Häuser im amerikanischen Südstaatenstil errichtet hat.

Julia Schoch: ... und zwischen den limettengrünen Wiesen eine grundlos gewundene Teerstraße, auf der man im Verkehrsgartentempo zu einer Golfplatzanlage gelangt? Kenne ich. Von der Terrasse des Clubcafés aus kann man gut die abgeschlagenen Bälle durch die Luft fliegen sehen. Als ich dort war, hatte ich den seltsamen Eindruck eines künstlichen Friedens.

Heimat: Jetzt kommen Sie mir schon wieder damit! Sie haben offenbar eine mehr als fatalistische Seite. Die Bewohner machen es sich eben schön.

Julia Schoch: Entschuldigung, aber ich fürchte, es handelt sich nicht wirklich um Bewohner, sondern um Nutzer. Nutzer eines Landschaftsraumes. Nutzer von Skaterbahnen, Fahrradwegen, Golfplätzen, Spargelhöfen, Erdbeerhöfen, Reiterhöfen, Kletterwäldern, Straußen- und Wasserbüffelfarmen, Baumärkten, Möbelhäusern ... Diese Orte sollen uns anziehen. In Wahrheit aber vertreiben sie uns.

Heimat: Herrgott, was wollen Sie bloß? Was haben Sie gegen ein bisschen Freizeitvergnügen?

Julia Schoch: Ach, gar nichts. Irgendwie passt es ja sogar. Freizeit statt Freiheit ...

Heimat: Nun machen Sie mal halblang.

Julia Schoch: Nutzer kommen einfach, und genauso leichtfüßig gehen sie wieder fort. Es ist nicht Ignoranz, wissen Sie. Ich würde es eher fröhliche Arglosigkeit nennen. Nutzer stören sich nicht an Imitationen. Wer durch keinen Vergangenheitsfaden mit einem Ort verbunden ist, schaut anders. Scheußlichstes Retro, Billigbauten, die übertüncht werden mit irgendeiner sonderbaren Phantasienote, Barock oder Südstaatenflair – Starnberg kann überall sein; die Welt ein riesiges Freilichtmuseum ... Haben Sie das wirklich nötig?

Heimat: Ob ich das nötig habe? Herrje, da beschweren Sie sich bei der Falschen. Nötig ist, was getan wird. Fertig. Ich fürchte, Sie haben ein Problem mit Zeit, meine Liebe. Landschaft verändert sich eben. Was regen Sie sich über die letzten 30, 40 Jahre auf? Soll ich Ihnen erzählen, was hier zu Zeiten der Schweden los war? Hätten Sie lieber den Dschungel zurück? Soll alles wieder Sumpf und Sand sein? Oder gar militärisches Sperrgebiet?

Julia Schoch: Es heißt, die einzigen Dinge, die im Leben von Bedeutung sind, sind die Dinge, an die man sich erinnert. Das scheint erst recht dort von Bedeutung zu sein, wo es die Beweise einer Vergangenheit gar nicht mehr gibt. Ich habe kaum mehr Beweise für meine Vergangenheit. Vielleicht liegt es daran. Zwischen dem, was ich als Kind und dem, was ich als Erwachsene gesehen, gelernt und erlebt habe, fehlt der Übergang. Es handelt sich um zwei Welten, die nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Das harmonische Wachstum – tapp tapp tapp, sanfte Schritte ins jeweils nächste Stadium hinein – ich habe es nie kennengelernt. Mir scheint, nicht ich habe mich bewegt, sondern die Welt um mich herum.

Heimat: Und mir scheint, Sie müssen mal wieder an einen meiner Seen. Es gibt sie eben nicht, die unbetroffene, unangerührte Zeit. Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen.

Julia Schoch: Wo haben Sie das denn her?

Heimat: Hab ich mal gehört, irgendeine Autorin, die hier in der Gegend leben soll ... Ich kann Ihnen wirklich nur raten, posthum auf die Dinge zu schauen, so wird man gelassener.

Julia Schoch: Apropos posthum. Da kommt mir die Strophe eines Gedichts von Nelly Sachs in den Sinn.

Heimat: Bin ganz Ohr.

Julia Schoch: Ein Fremder hat immer/ Seine Heimat im Arm/ Wie eine Waise/ Für die er vielleicht nichts/ Als ein Grab sucht.

Heimat: Hm. Ganz schön tiefgründig ...

Julia Schoch: Sie müssen das verstehen: Die Dichterin war damals im Exil. Aber vielleicht treffen diese Zeilen in einer ganz neuen Weise auch auf uns zu. Auf uns freiwillige Exilanten, uns Dauerfremden, die wir leichthin ohne Heimat sein wollen. Wir arbeiten beständig an der Auslöschung unserer Herkunft, an der Bedeutung von Herkunft. Wir Nutzer und Vernutzer. Wir haben vergessen, dass Heimat etwas zum Hinknien ist, etwas, wo es einen reißt. Vielleicht wollen wir es auch gar nicht wissen.

Heimat: Wo es einen was?

Julia Schoch: Wir sind Fremde in der Landschaft, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Eigentlich sind wir längst verschwunden. Wir würden gern vorkommen, aber alles, was wir vorfinden, ist eine vermeintliche Vergangenheit, der wir mit Events und auf Festen huldigen. Ja, da wo die Landschaften noch betretbar sind, sind sie zu Fest- und Eventlandschaften geworden. Manchmal denke ich, vielleicht findet die Pause, die Sie vorhin erwähnten, in Wirklichkeit ja jetzt statt.

Heimat: Ein bisschen Humor, meine Liebe! Und was die Events angeht: Soviel ich weiß, finden es die Besucher aus ... sagen wir Berlin ganz lustig, wenn sie bei einem Apfel-, Feuerwehr-, Mittsommer-, Mai-, Mittelalter- oder Fährfest ein Stück Brot aus einem traditionellen Lehmofen kosten können. Gibt es nicht sogar einen in dem Ort, in dem Ihr Mann als Kind ...

Julia Schoch: Ja, ja, gleich neben dem alten Konsum. Heute wird in dem putzig aufgemachten Lädchen regionale Sanddornmarmelade und Obstlikör verkauft. Natürlich nicht von Leuten aus dem Ort. Die Zugezogenen in den Dörfern ähneln den alten Bewohnern in gar keiner Hinsicht. Sie kennen die Welt, sie lieben das Land, sie verstehen was vom Geschäft und dem Markt. Vor allem hegen sie keinerlei Misstrauen neuen Dingen gegenüber. Allerdings ist bei den letzten verbliebenen Einheimischen die Feindlichkeit ebenfalls der Gleichgültigkeit gewichen. Die alten und die neuen Nutzer der Dörfer kommen sich kaum in die Quere. So können die Zugezogenen die Fahrradtouristen ganz ungestört mit einem Kaffee to go bewirten.

Heimat: Sie wollen doch nicht behaupten, als Brandenburgerin hätten Sie was gegen das Radfahren?

Julia Schoch: Gar nichts, gar nichts. Ich durchstreife Sie auch am liebsten auf diese Weise. Sie eignen sich hervorragend zum Durchfahren. Keine Angst: Die Betonung liegt auf Fahren, nicht auf Durch. Vor ein paar Jahren machte ich mich von Rheinsberg aus mit dem Rad auf den Weg zum Stechlinsee. Das Rad war geborgt und nicht besonders vertrauenswürdig. Ich erinnere mich, dass das dürre Vorderrad eierte, es gab auch keinen Rücktritt und nur eine vollständige Pedale. Ich fuhr auf einem nagelneuen, aber vollkommen menschenleeren Fahrradweg, immer neben der Landstraße her, die ebenfalls nur spärlich befahren war. Es war April, und ein falscher Sommer hatte die Temperaturen auf knapp 30 Grad ansteigen lassen. Ich fuhr durch herrliche Alleen, an Tümpeln vorbei, das Licht blinkte und flackerte aufs Schönste durchs Blattwerk. Nach der Hälfte der Strecke hielt ich in einer kleinen Ortschaft, setzte ich mich auf die Stufen eines kleinen Ladens und aß ein Eis. Gegenüber stand eine Feldsteinkirche ...

Heimat: Lassen Sie mich raten: Frisch renoviert?

Julia Schoch: Draußen hing ein Plakat für ein Konzert. Zu den Gottesdiensten geht ja kaum noch ein Mensch. Eine Tatsache, die traurig stimmt. So eine schmucke, adrett renovierte Kirche verströmt doch eine gewisse Ratlosigkeit, diese dämmrige Leere ... wie ein Saal, der für eine Geburtstagsparty hergerichtet wird, zu der niemand kommt.

Heimat: Geht das schon wieder los?

Julia Schoch: Keine Sorge. Später lag ich am Stechlinsee und las im Taugenichts. Auf der Rückfahrt fand ich noch einen anderen See, in dem riesige Fische schwammen, und ich mittendrin. Er war für Motorboote verboten. Man musste ein Stück durch den Wald, irgendwann tat sich zwischen den Bäumen eine Lichtung auf und ein Feld mit hochstehendem Weizen war zu sehen, davor ein Koppelzaun ... Rechts der Wald, links das gelbe Weizenfeld, und in der Mitte der krumme, wurzlige Weg, der zum See führte, da dachte ich: So ähnlich ist Heimat. Etwas, das ich in 20 Jahren vielleicht noch genauso vorfinden würde.

Heimat: Na sehen Sie, jetzt ist Ihre Stimme ganz lieblich geworden.

Julia Schoch: Ja, ‚lieblich’ ist der richtige Ausdruck, für Sie. Unextrem. Schließlich gibt es in Ihnen keine Vulkane, Tornados oder Lawinen, keine Dürre und kaum giftige Tiere. Und kein See ist so groß, dass man nicht das gegenüberliegende Ufer sehen könnte. Vielleicht bin ich deshalb immer wieder hierher zurückgekommen. Sie sind ein fabelhafter Auffangort. Ich bin oft weggegangen, aber jedes Mal zurückgekommen. Was schließlich das Wichtigste ist, nicht wahr? Das Wesentliche ist, dass man immer wieder zurückkommt. Heimat ist da, wo man weg will und immer wieder hin muss, verstehen Sie? Hallo? Ach, jetzt sind Sie doch eingeschlafen.

Heimat: Nein, nein ... Erzählen Sie weiter, das ist beruhigend. Es ist ein bisschen, als würde man dem Wind lauschen ... Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich dabei gern ein wenig dösen, nur ein kleines Nickerchen, ja?, solange bis ...

Dieser Essay ist zuerst erschienen in „Landschaft im Wandel“ von Kulturland Brandenburg

Julia Schoch

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