Landeshauptstadt: Mit der Leiter zum „Hanauer Anzeiger“
Eine Veranstaltung im Schloss Glienicke beleuchtete die Fluchtgeschichte des BNN-Mitarbeiters und Stadtverordneten Helmut-Henning Schimpfermann
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Gescheiterte Fluchten. Geglückte Fluchten. Vom Mauerbau vor 50 Jahren war in den vergangenen Tagen viel die Rede. Aber dass sich selbst ein Potsdamer Stadtverordneter zur Flucht in den Westen entschloss, dürfte nur wenigen bekannt sein.
Helmut-Henning Schimpfermann und seine Frau Brigitte erzählten am Sonntag in der Orangerie des Schlosses Glienicke ihre Fluchtgeschichte. Der heute 66-jährige Schimpfermann erklärte den Zuhörern dabei auch, warum sein Lebenslauf in der DDR so angepasst erschien. „Ich wollte schreiben“, also Journalist werden, sagte er. Dafür habe er in eine Partei gehen müssen. Als redaktioneller Mitarbeiter der Brandenburgischen Neuesten Nachrichten (BNN), dem Vorgänger der PNN, trat er in die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) ein, deren Parteizeitung die BNN waren. Und als die NDPD nach einem jungen Kandidaten für die Stadtverordnetenversammlung suchte, erklärte Schimpfermann sich auch hierzu bereit. Er wohnte mit seiner Frau damals in der Klein Glienicker Wannseestraße. Der Straßenname war ein Relikt, denn zum Wannsee führte diese Straße längst nicht mehr. Aus dem Wohnzimmer blickte die Familie auf den „Antifaschistischen Schutzwall“, wie die Mauer in der DDR offiziell hieß.
Dienstag, 15. Juni 1971. Die Schimpfermanns bemerken, dass ein Teil der Beleuchtung an den Grenzanlagen ausgefallen ist. Auch schienen die Grenzer seltener als sonst zu patrouillieren. Der Entschluss zur Flucht reift. Das Paar weckt den älteren ihrer beiden Söhne. Es erklärt ihm, es gehe zu einem „Spaziergang“. Ihren drei Monate alten jüngeren Sohn wickeln sie in eine Decke. Die Familie greift sich vom Nachbarn eine Leiter.
Für das, was nun folgt, geben die Ermittlungsakten der DDR einen Zeitraum zwischen 0.30 Uhr und 1.20 Uhr des 16. Juni als Tatzeit an. Den ersten Metallzaunüberwindet die Familie schnell. Doch dann folgt die eigentliche Mauer. Eine Betonwand mit aufgesetztem Zaun, zusammen 3,50 Meter hoch. Die Leiter reicht nicht. Und doch schaffen sie es, auch diese Sperre zu überwinden. Die beiden Kinder werden von ihnen über die Mauer getragen. Zum Entsetzen der Flüchtenden erstreckt sich vor ihnen eine weitere Barriere, ein Stacheldrahtwirrwarr. An einem Baum kann die Familie jedoch auch diese Hürde überwinden. Sie ist in Westberlin. Von den Grenzern unbemerkt und nur mit ein paar Wunden versehen. Helmut-Henning Schimpfermann erhält noch im Sommer 1971 eine Anstellung beim „Hanauer Anzeiger“, dem er Jahrzehnte treu bleiben wird.
Erhart Hohenstein, ehemaliger Redakteur der BNN und der PNN sowie damals ein Freund Schimpfermanns, berichtete von den Folgen der Flucht für die Zeitung und ihn selbst. Die stellvertretende Chefredakteurin habe der Redaktion die Nachricht mit den Worten überbracht: „Es ist etwas Furchtbares geschehen.“ Die Redaktion wurde von der Stasi verhört, Hohenstein von zwei Leuten separat befragt, weil seine Freundschaft zu Schimpfermann bekannt war, die ihn zu Stillschweigen verpflichtet. In der Folgezeit erzählt Hohenstein jedoch quasi jedem in der Redaktion von dem Vorfall. Die Stasi vermerkt, Hohenstein habe sich mit diesem Verhalten dekonspiriert. Genau das habe er mit dem Ausposaunen der Briefangelegenheit auch erreichen wollen, so Hohenstein am Sonntag. Nach dem Vorfall nahm die Stasi Hohenstein intensiv ins Visier. Seine Stasi-Akte wird am Ende 1000 Seiten umfassen. H. Catenhusen
H. Catenhusen
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