zum Hauptinhalt

Serie: Feine Sache: Mit scharfem Blick

Stefan Scharnbeck hat ein Gespür, welche Brille zum Kunden passt. Der muss bisweilen im Laden Kniebeugen machen.

Stand:

Potsdam - Der Mensch kann sehen und hören, fühlen, riechen, schmecken. „Jetzt raten Sie mal, wie viel unserer Wahrnehmung über das Sehen geschieht?“, fragt Stefan Scharnbeck. „Fast 90 Prozent“, fügt der Augenoptikermeister ein wenig triumphierend hinzu und erklärt weiter, warum das heute mehr ist als früher, vor 30 oder 50 Jahren. Da produzierte die Umwelt weniger visuelle Reize, es gab kaum Computer und es wurde viel weniger ferngesehen. „Man hat stattdessen Bücher gelesen und zusammengesessen und gesungen“, sagt der Optiker. Ob man alles exakt sehen konnte, das war einfach weniger wichtig. Eine Sehschwäche fiel manchmal gar nicht erst auf oder wurde kompensiert. Deshalb gab es früher tatsächlich weniger Brillenträger.

Heute gibt es gefühlt an jeder Ecke einen Optiker, und seit Januar 1989 gehört auch Stefan Scharnbeck in der Brandenburger Straße dazu. Der ausgebildete Optometrist konnte ein bestehendes Geschäft übernehmen – und sich selbstständig machen. Das fand auch ganz klar die Zustimmung seiner Familie. Die stammt aus Rathenow, aus der „Wiege der optischen Industrie Deutschlands“, sagt Scharnbeck. Sein Urgroßvater eröffnete dort 1895 einen Betrieb, in dem Brillenfassungen hergestellt wurden. Schon der habe ein goldenes Händchen, ein feines Gespür für dieses Handwerk gehabt. Stefan Scharnbeck muss das geerbt haben. Zunächst aber brauchte er einen Laden, denn die Firma der Eltern wurde 1972, wie damals so üblich, vom Staat kassiert, die Familie mit einer mittleren fünfstelligen Summe abgespeist. Der Vater, zunächst als Betriebsleiter eingesetzt, durfte zuletzt nur noch als Heizer in seinem eigenen Betrieb arbeiten. Und war froh, als die Familie 1990 den Betrieb zurückkaufen konnte.

5000 Brillenfassungen vorrätig

Heute gehören zur Firma Scharnbeck vier Filialen in Potsdam und Werder mit 20 Mitarbeitern und die Spezialwerkstatt in Rathenow. Hier werden individuelle Fassungen hergestellt oder angepasst, wenn jemand eine ausgefallene Kopfform oder Gesichtsmerkmale hat – oder besondere Wünsche. Die Kunden kommen aus ganz Deutschland und dem Ausland. Wenn er etwas macht, dann sucht und tüftelt er, bis er gefunden hat, was dem Kunden gefällt und seinen Qualitätsanspruch erfüllt.

Das Geschäft in der Brandenburger Straße sieht winzig aus. Das täuscht, alles in allem sind hier etwa 5000 Brillenfassungen vorrätig. Der Kunde findet sich hier kaum mehr allein zurecht. Dazu kommt die Vielfalt an technischen Möglichkeiten und Variationen: Soll es Glas oder Plastik sein, beschichtet und vor UV-Licht oder lästiger LED-Strahlung von Computerbildschirmen schützen, soll es eine Gleitsichtbrille sein, eine für nächtliche Autofahrten, zum Sporttreiben oder zum Tauchen? Scharnbecks jüngster Kunde war sechs Wochen alt: Für Kinder gibt es Modelle, die erstaunlich flexibel und „unkaputtbar“ sind. Menschen mit Sehbehinderung bekommen hier Spezialbrillen mit Lupen oder Lesehilfen. Das ist ein wichtiges Thema, sagt der Optiker, er ist deshalb Mitglied im Low Vision Kreis, einem Verein, zu dem etwa 50 spezialisierte Augenoptiker aus ganz Deutschland gehören.

Glas-Typ oder Kunststoff-Typ?

Es kommt beim Sehen aber nicht nur auf die Schärfe an, sagt der Optiker. „Ich muss in Erfahrung bringen, was dem Kunden wichtig ist. Was und in welcher Entfernung er scharf sehen will. Ob er ein Glas-Typ ist oder ein Kunststoff-Typ.“ Mit Testbrillen, die vor die eigentliche Brille gesetzt werden, kann der Kunde ausprobieren, wie sich das, was technisch möglich ist, tatsächlich anfühlt. Moderne Gleitsichtbrillen sind ein ganz besonderes Thema. Kunden, die ein solches Produkt wünschen, betreut der Chef meist selbst, die genaue Augenprüfung, das optometrische Screening, kann durchaus zwei Stunden dauern. Und nimmt manchmal einen bizarren Verlauf. Dann muss der Kunde etwa Kniebeugen machen und Scharnbeck schaut genau hin, wie sich dabei die Augen bewegen.

Vielleicht ist es Glück, dass der in der DDR aufgewachsene Scharnbeck damals nicht das Abitur machen durfte, weil er sich in der Kirche engagierte. Er machte seine Ausbildung und gleich zweimal den Meister, in Ost- und Westdeutschland. Nur kurz überlegte er nach der Wende, ob er noch studieren sollte – und blieb dann im Handwerk. Er berät zwar auch Hersteller von Brillenfassungen wie die Potsdamer Firma Makellos, testet, ob das, was der Designer sich vorstellt, auch in der Praxis funktioniert. Vor allem aber arbeitet er direkt im Laden, bei den Menschen. Scharnbeck sagt, er kann spüren, was zum Kunden passt. Er dreht ein paar Runden im Laden und findet genau die zwei Fassungen, die dann perfekt sind. „Ich habe eine hohe Trefferquote.“ Das schätzen bisweilen auch Menschen mit knappen Zeitbudget, Promis, Schauspieler, Politiker. „Da haben schon einige bei mir gesessen“, sagt Scharnbeck. Manche brachten einen PR-Berater mit – für einen Imagewechsel mittels neuer Brille.

Mal über den Tellerrand schauen

Die Auswahl ist riesig und bisweilen ausgefallen, es gibt Modelle, die liegen nur im Regal, weil sie auffallen. Eine rote Spiderweb-Fassung ist so speziell, dass sie Lust macht, sie aufzusetzen. Verkauft hat er sie erst einmal – aber sie vermittelt die Botschaft: Es lohnt sich, mal über den Tellerrand zu schauen. Mutig zu sein. Scharnbeck selbst trägt gern bunt, und sei es nur eine gewagte Krawatte.

Er besitzt mehrere Brillen. „Man trägt ja auch nicht immer den gleichen Pullover.“ Ganz neu auf dem Markt sind Papierfassungen, die hat er auf der Messe gesehen und bestellt. Selbstverständlich sind sie so verarbeitet, dass sie nicht im Regen aufweichen. Das passt zu dem allgemeinen Trend, dass Brillen als Accessoire gesehen werden, sich manche Kunden mehr als eine leisten – oder ein Brillensystem, bei dem Bügel und Steg austauschbar sind. „Switch it“, heißt die Marke, und einmal im Jahr veranstaltet Scharnbeck eine „Switch it Party“, bei Prosecco wird dann getauscht und probiert – Brillen natürlich.

Brandenburger Str. 6, Tel. (0331)293448

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })