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Homepage: Modell ohne Differenzierungen

Einstein-Stipendiat Mischa Gabowitsch im Einstein Forum zur russischen Vergangenheitsbewältigung

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Autoersatzteile und Lebensmittel lassen sich exportieren. Selbst Ideen, Lebensstile oder politische Haltungen werden auf den internationalen Absatzmärkten der Ideologien verhökert. Warum nicht auch die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“? Ein Produkt immerhin mit Kultstatus, befand ironisch Mischa Gabowitsch jüngst im Einstein Forum. Der Historiker, inzwischen in Princeton, hatte das ihm verliehene Albert-Einstein-Stipendium genutzt, um im vergangenen Sommer über den Export der deutschen Vergangenheitsbewältigung in das postsowjetische Russland zu forschen.

Der eloquente 30-Jährige musste zunächst gestehen, dass er mit mehr Fragen als Antworten seine Taschen im Caputher Sommerhaus packte. Am Anfang schien ihm alles klar: Die Forderung politischer Dissidenten nach Reformen setzte an der Aufarbeitung der Verbrechen während des Stalinismus an, die deutsche Vergangenheitsbewältigung sollte das Modell abgeben. Allerdings musste Gabowitsch alsbald feststellen, dass in Russland kaum jemand weiß, was dieses Modell eigentlich beinhaltet, denn kaum ein Text der deutschen Debatten wurde je ins Russische übersetzt. Weder die frühen Texte von Karl Jaspers und Adorno, noch die Reaktionen auf die Nürnberger Prozesse oder der deutsche Historikerstreit. Es gebe die Idee einer deutschen Vergangenheitsbewältigung, ein abstraktes Modell, das Differenzierungen nicht wahrnimmt. Etwa, dass es 40 Jahre zwei deutsche Staaten gab, die unterschiedlich und in Konkurrenz zueinander über die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus diskutierten.

Die relativ kleine Gruppe von Historikern, die über die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit auch im eigenen Land diskutieren will, benutzt also lediglich ein Schlagwort – ohne Inhalt. Sie dafür zu kritisieren berge die Gefahr der schleichenden Rehabilitierung von Verbrechen, weiß Gabowitsch. Er hält die Kritik dennoch für notwendig, denn Auseinandersetzung brauche Substanz. Indes beschränkt sich das Wissen über Deutschland zumeist auf die unmittelbare Erfahrungen des Krieges, viele noch kennen das Land aus eigener Anschauung. Sie waren als Soldaten da und leisteten einem mordenden nationalsozialistischen Staat patriotischen Widerstand. Dieses Geschichtsbild wurde nach 1945 weiter getragen. Die Bundesrepublik blieb darin ein faschistischer Staat, die Sowjetunion ihr unmittelbarer Gegner.

Die Forderung, gerade von diesem Gegner Selbstkritik zu lernen, erscheint da als Blasphemie. Versuche, differenzierte Darstellungen des Krieges zu etablieren, verkehrten sich mitunter sogar in das Gegenteil der Intention. So habe die sehr erfolgreiche Fernsehrserie „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“ um einen sowjetischen Spion in Nazideutschland, 1971 erstmals ausgestrahlt, Deutsche nicht einfach nur als Bestien, sondern als vielschichtige Persönlichkeiten dargestellt. Der Film wurde jedoch weniger als eine Erzählung über Deutschland, sondern als Kommentar zur sowjetischen Realität aufgefasst, bis hin zu der Idee, dass der KGB den Film finanziert habe, um den Geheimdienst zu glorifizieren. Naziideale galten plötzlich als schick, Jugendliche fühlten sich animiert nationalistische Gruppen zu bilden, die noch heute den Kern rechtsnationalistischer Parteien bilden.

Dennoch sieht Gabowitsch in der Mediatisierung die Chance, ein breites Publikum zu erreichen, denn wissenschaftliche Zeitschriftenaufsätze würden nicht gelesen. So wie die Fernsehserie „Holocaust“ innergesellschaftliche und familiäre Debatten über die Shoah auslöste, könnten auch im heutigen Russland Massenmedien dazu beitragen, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Einen weiteren Weg sieht er in der Individualisierung der Verbrechen. Kleine historische Projekte etwa an Schulen sollten sich auf einzelne Personen und ihre Schicksale konzentrieren und diese erforschen. Eine solche Wahrnehmung des anderen als Menschen sei die beste Abwehr gegen grassierende Feindbilder. Wer sich selbst zuerst als Sünder analysiere, tue sich schwer damit, zu hassen. Lene Zade

Lene Zade

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