Homepage: Nach Sibirien ziehen?
Plattenbauviertel bekommen Zuzug von Studenten: Zu Besuch in einer von 180 Studenten-WGs im Schlaatz
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Plattenbauviertel bekommen Zuzug von Studenten: Zu Besuch in einer von 180 Studenten-WGs im Schlaatz Von Matthias Hassenpflug Waldstadt, Stern, Drewitz und Schlaatz – die Namen der Potsdamer Neubaugebiete klingen für viele Studenten nach Sibirien, Neubau-Ghetto und Neonazis. Das Leben in der Platte will oft nicht in eine Vorstellungswelt passen, in der Dielen, Hochbetten und Stuck im Gründerzeit-Altbau das Ideal sind. Doch wer in Potsdam-West je eine bezahlbare Studentenbude gesucht hat, der kennt den Zusammenhang zwischen starker Nachfrage und knappem Angebot: die Mieten sind einfach nicht mehr zu bezahlen. Aber in Schlaatz ziehen? Nach Sibirien? Eine Expedition in den Schlaatz sollte mit dem Fahrrad unternommen werden. Hinter der Glaspyramide des Druckereizentrums an der Friedrich-Engels-Straße führt ein schmaler, beinahe verborgener Weg die Nuthe entlang, direkt in das zwischen 1980 und 1987 errichtete Wohngebiet. Plötzlich taucht man in eine Wildnis ein, links der „Erlebnispfad“ Nutheufer, vorbei an einem kleinen, verschwiegenen See. Die unmittelbare Nähe zu dieser ruhigen Flusslandschaft halten viele Anwohner für den größten Vorteil ihres Wohngebiets. Allein 180 Studenten-WGs zählt die GEWOBA, der größte der drei Vermieter im Schlaatz. Neun Prozent der 9000 Bewohner sollen an Hochschulen eingeschrieben sein, das macht also mindestens 800 Schlaatzer Studenten. Der Schlaatz ist sowieso jünger als man denkt: 15 Prozent der Bewohner sind jünger als 18 Jahre, nur 10 Prozent sind älter als 65. Der Binsenhof, die Straße, in der Alexander Altmann (27) und Mark Hesse (29) seit Mai zusammen eine sanierte 2-Zimmer Wohnung mit 68 qm bezogen haben, unterscheidet sich zunächst nicht von anderen Straßen des Schlaatz: Milanhorst, Falkenhorst, Schilfhof, Bisamkiez und Wieselkiez. Früher, erinnert sich der in Potsdam aufgewachsene Alexander, hatte er bei den seltenen Besuchen im Schlaatz auch Orientierungsschwierigkeiten: „wie ein Irrgarten“. Bunte DDR-Kunst an den Hauswänden mit den Tieren und Pflanzen der Straßennamen soll helfen. Aber die Ordnung, die von den Städteplanern damals für das Neubaugebiet entworfen wurde, ist im Grunde einfach und überzeugend. Eine breite Magistrale, genannt die Lange Linie, führt L-förmig durch den gesamten wie eine Triangel angelegten Schlaatz. Zur Langen Linie hin öffnen sich die in Höfen gruppierten Viergeschosser, so dass sich 200 bis 300 Anwohner – praktisch wie ein Dorf – jeweils einen grünen Innenhof teilen. Das sollte die Gemeinschaft stärken. Auch die Wohnung von Alexander und Mark liegt an der Langen Linie, im obersten Stockwerk. Das Treppenhaus ist in freundlichem Orange gestrichen, eine blaue Bordüre nimmt ein klassisches Ziermotiv der Gründerzeit auf. Zwischen den beiden 25 qm großen Wohnräumen der zwei Freunde liegen das Bad und die Küche, in der sogar ein Tisch Platz hat. Ein Fenster hat sie nicht, dafür gibt es im modernen Badezimmer einen Heizkörper. Direkt vor Marks Balkon liegt „die Weide“, ein Lokal, das sehr hübsch von herbstlich rotem Wein umrankt ist. Es wird allerdings nicht bewirtschaftet. Gleich dahinter ist das eigentliche Zentrum des Schlaatz, dort stehen auch die beiden einzigen 18-Stöcker des Wohngebiets. Hier liegen der Supermarkt, daneben ein China-Restaurant, gegenüber die Post, eine Kneipe und der Döner „Addy“. Billiger ist der Schlaatz aber weder beim Döner, noch bei der Miete. Die Miete der beiden ist mit 460 Euro allenfalls preiswert. Darin ist allerdings die Heizung inbegriffen. Und bis auf die wellige „Dünenlandschaft“ des verlegten PVC-Bodens, der beim Aufstellen der Möbel Schwierigkeiten bereitet hätte, haben die beiden nichts an ihrer GEWOBA-Wohnung auszusetzen. Alexander erledigt zwar seine Einkäufe zumeist auf dem Weg zur Uni, wo er Informatik studiert, die Möglichkeiten vor Ort werden aber von der WG schon geschätzt. Morgens ab halb acht steht ein mobiler Bäcker praktisch direkt vor dem Haus. Für Alexander manchmal sogar zu spät, denn er arbeitet im Vorzimmer eines Arztes und muss früh raus. Alexander hat vorher im Musikerviertel in Babelsberg gewohnt. Mark, von Beruf Softwareentwickler, kommt aus Wetzlar. „Das ist halt ein Neubaugebiet“, kommentiert Alexander den Unterschied zu seiner letzten Wohnung, „dafür ist es eigentlich ganz o.k.“ Mark, der zugezogene Westler, stimmt zu. Sicher nicht Sibirien, aber auch nicht Hollywood. Der Schlaatz liegt verkehrsgünstig, drei Straßenbahnlinien halten praktisch direkt vor dem Haus der beiden Freunde am Magnus-Zeller-Platz. Alexander nimmt sein Fahrrad oft gleich mit in die Tram. Die Trinkergruppe vor der Kaufhalle? „Ach, die mit den Hunden und den Dosen verhalten sich eigentlich ruhig.“ Sie stören nicht. Klar, sicherer hätte sich Alexander in Babelsberg gefühlt, aber das war ja auch eine Einfamilienhausgegend. Nächtliche Randale, Gewalt, Nazis, Polizeieinsätze? Nichts, nur am Männertag wären Flaschen an der Tram-Haltestelle zerschlagen worden. Und was sagen die Freunde? „Klar gibt es negative Bemerkungen“, sagt Alexander. „Aber nur, weil sie mich ärgern wollen.“
Matthias Hassenpflug
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