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Sport: Neunzig Minuten plus Verlängerung

Marcel Reif las bei Wist „Aus spitzem Winkel“

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Marcel Reif las bei Wist „Aus spitzem Winkel“ Carsten Wist wagte sich zur Eröffnung des Abends an einen trefflichen Vergleich. Er sei froh und stolz, dass heute abend einmal die Champions League in seinem kleinen Stadion gastiert, bemerkte der Chef des Hauses mit Blick auf den Gast des Abends. Marcel Reif war gekommen, was Wists Innenstadt-Literaturladen am Montag erstmals in seiner jüngeren Geschichte ein ausverkauftes Dachgeschoss brachte. Sechzig Leute fanden Platz. Der Andrang war so groß, dass einige Besucher wieder den Heimweg antreten mussten. Reif (54) gilt breiten Kreisen des deutschen Fußballpublikums als sprachlich und fachlich bester Fernsehreporter. Vom ZDF über RTL kam er 1999 zum Pay-TV-Sender Premiere. Kein Karriereknick, denn Reif blieb gut bezahlter Angestellter und hatte sich beim Kommentieren von Fußballspielen mit seinem unverwechselbaren Sprachbild längst eine Aura geschaffen, die ihn für einen Großteil seiner Zuhörer scheinbar außerhalb jeder Kritik stellt. In Potsdam war dies wieder als Phänomen zu beobachten. Neunzig Minuten zuzüglich Verlängerung waren avisiert und der Meister des Imperativs las zunächst einige Passagen aus seinem im vergangenen Winter im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und biographisch angelegtem Buch „Aus spitzem Winkel“. Im Auditorium lauschte man andächtig und war doch schon speziell auf die zweite Hälfte fixiert, in der Carsten Wist Marcel Reif ins Kreuzverhör nehmen konnte und anschließend Zeit zum erschöpfenden Frage- und-Antwort-Spiel blieb. Wenn der sonst sehr schöne Abend etwas Irritierendes hatte, dann hier. Marcel Reif bestätigte indirekt ein Zeitungszitat, demzufolge er zwar arrogant, jedoch in der Bewertung von sportlichen Geschehnissen fundiert wie kaum ein anderer sei. So lächelte er süffisant, als es um die in die Verzweiflung abgedriftete Suche des DFB nach einem neuen Bundestrainer ging : „Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass der Rehhagel absagt. Jetzt geht es scheinbar nur noch darum, wer nicht schnell auf den Baum kommt. Wer es macht, wird wahrscheinlich zum Looser des Jahrzehnts. Ein Ausländer sollte es machen. Ich denke da an Morten Olsen, der mit seinen Dänen bei der EM doch sehr ordentliche Vorstellungen angeboten hat.“ Weiter ging es im Bewertungsstakkato. Giovanni Trapattoni wird da mal eben schnell zum „Fußball-Stalinisten“, der RTL-Quotenbringer Formel 1 ist ihm unerträglich: „Da fahren welche immer im Kreis rum, tanken und am Ende gewinnt immer der Schumacher.“ Beim Thema Frauenfußball hält er sich zurück, urteilt milder und respektiert letztlich die „sportlichen Fortschritte der letzten Jahre“. Die teils heftige Schelte, die die Kollegen der Öffentlich-Rechtlichen für ihre EM-Berichterstattung einstecken mussten, sind für Reif kein Thema, welches es klar zu bewerten gilt. „Ich hatte Urlaub und habe mich jeden Abend in den Schlaf geweint.“ Denke sich jeder seinen Teil, mag dies heißen. Zum Trost für alle : 2006 hat Premiere die WM-Übertragungsrechte und Reif wird wieder seiner wahren Passion frönen. Thomas Gantz

Thomas Gantz

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