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Landeshauptstadt: Notruf „nicht zuständig“?

Ermyas-Prozess: Zeugen belasten Polizei und widersprechen sich

Von Sandra Dassler

Stand:

Bereits in der vergangenen Woche war beim Prozess um die Attacke auf den in Äthiopien geborenen Ermyas M. die Polizei in die Kritik geraten. Gestern rief die Aussage einer Zeugin erneut Verwunderung im Gerichtssaal hervor:

Sie hatte in der Nacht zu Ostersonntag vergangenen Jahres die Notrufnummer 110 gewählt und geschildert, dass jemand von zwei Männern niedergeschlagen worden sei: „Ich habe auch gesagt, dass das Opfer leblos auf der Straße liegt und die beiden Täter geflüchtet sind“, erzählte die 20-Jährige: „Man antwortete, dass die Polizei dafür nicht zuständig sei. Ich sollte die 112 anrufen. Dann hat man mir noch einen schönen Abend gewünscht.“ Das Polizeipräsidium teilte gestern mit, dass gegen die Beamtin Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gestellt sowie eine Disziplinarverfahren eingeleitet worden ist. „Diese Verhaltensweise war im Hinblick auf die Hilfebedürftigkeit des Anliegens und ohne Rücksicht auf deren Ursache nicht zu akzeptieren“, so die Polizei. Sie arbeite inzwischen nicht mehr im Polizeipräsidium, sondern auf der Wache.

Die Zeugin sagte gestern ebenso wie ihr Freund aus, dass sie gesehen habe, wie zwei Männer hinter Ermyas M. hergelaufen seien. Dann sei es zu einer verbalen Auseinandersetzung, möglicherweise auch zu einer „Schubserei“ gekommen. Daraufhin habe der kleinere der beiden Männer Ermyas M. einen wuchtigen Faustschlag ins Gesicht versetzt. Dieser sei umgefallen und habe leblos am Boden gelegen. Dann seien noch zwei andere Personen an dem Schwerverletzten vorbeigegangen, die nichts unternommen hätten. Erst später hätten sich zwei Radfahrer um den Verletzten gekümmert.

Anders hörte sich das Geschehen aus dem Mund des Taxifahrers Roland Sch. an. Er will gesehen haben, wie Ermyas M. hinter den Männern herlief und einen „mit voller Wucht ins Gesäß trat“. Die Reaktion des Getretenen habe er nicht mehr mitbekommen, weil er Feierabend machen wollte und weiterfuhr. Er habe aber noch gedacht: ,Der Schwarze ist ganz schön mutig!“

Sein Kollege Sascha E. war kurz zuvor am Tatort vorbeigefahren. Er schilderte, dass er dabei gesehen habe, wie zwei Deutsche einen dunkelhäutigen Mann bedrängten. So sei einer der beiden in der Straßenbahnhaltestelle Charlottenhof mit erhobenen Händen auf Ermyas M. losgegangen. Dieser habe zwar nach ihm getreten, aber das sei „eindeutig eine Abwehrreaktion“ gewesen. „Es wollte sich jemanden vom Leib halten“, sagte der Taxifahrer.

Er habe die Situation als nicht so gefährlich eingeschätzt und sei weitergefahren, um Fahrgäste aus einer Diskothek abzuholen. Als er mit diesen wenige Minuten später an gleicher Stelle vorbei kam, habe Ermyas M. leblos am Boden gelegen und dieselben beiden Männer, die er auf der Hinfahrt gesehen hatte, seien geflüchtet. Er verfolgte sie eine Zeit lang, kehrte dann aber zu seinem Taxi zurück.

Sascha E. ist für die Anklage einer der Hauptbelastungszeugen. So soll er den Angeklagten Björn L. bei einem Videovergleich „erkannt“ haben – angeblich an seinem „coolen Gang“. Der Staatsanwalt sprach gestern von einer „glasklaren Identifizierung“, doch hundertprozentig sicher ist sich Sascha E. nicht. Das sagte er gestern mehrfach im Zeugenstand. Schließlich habe er die Angreifer nur von hinten gesehen. Insgesamt waren die Aussagen anderer Zeugen so widersprüchlich, dass der Tathergang immer noch völlig unklar ist.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem 29- jährigen Björn L. und dem 31-jährigen Thomas M. gefährliche Körperverletzung beziehungsweise unterlassene Hilfeleistung vor. Die Angeklagten bestreiten die Tat. Der Fall hatte international Aufsehen erregt, weil der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm von einem „rassistisch motivierten Mordversuch“ ausging und den Fall vorübergehend an sich zog. Zu Prozessbeginn hatten Zeugen über Pannen bei der Spurensicherung berichtet. Deshalb will sich heute der Innenausschuss im Potsdamer Landtag mit dem Fall befassen. Sandra Dassler

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