Von Kai Grimmer, Jana Haase und Juliane Wedemeyer: Nur fünf Minuten
Mit einem Anruf begannen die Übergriffe des 9. Novembers 1938: Rekonstruktion einer Schreckensnacht
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Erst um neun Uhr morgens war diese Nacht vorbei: Danach war die Synagoge zerstört, die jüdische Friedhofskapelle auf dem Pfingstberg ausgebrannt, die Schaufenster aller 40 jüdischen Geschäfte vermutlich zertrümmert oder mit antisemitischen Sprüchen beschmiert. Mindestens 23 Potsdamer Juden wurden in der Nacht zum 10. November 1938 in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Das ist über das Reichspogrom in Potsdam dokumentiert.
Im ganzen Land hatten Deutsche an diesem Tag die Wohnungen ihrer jüdischen Nachbarn verwüstet, mehr als 8000 ihrer Läden demoliert, hunderte ihrer Gotteshäuser abgebrannt. In Potsdam begannen die Übergriffe um drei Uhr morgens: SS-Oberführer Gustav Stolle ruft sechs seiner Untergebenen an und gibt den Befehl, sämtliche Synagogen sofort nieder zu brennen. „Anzug Räuberzivil, Plünderungen verboten“, notiert Stolle in sein SS-Diensttagebuch.
Als fünf Männer um 5.30 Uhr in Zivil die Wohnung des Rabbiners Hermann Schreiber stürmen, ist es noch dunkel. Die Sonne geht am 10. November erst um 7.18 Uhr auf. Sie fordern den Schlüssel der Synagoge und die Herausgabe der Gemeindebücher. Schreiber begleitet sie zur Synagoge. Dort habe eine Bande von 20 bis 30 Männern gewartet, erinnert er sich später. Draußen ist es kalt und feucht, gerade einmal fünf Grad zeigen die Thermometer an. Der Himmel ist bedeckt.
Innerhalb von fünf Minuten ist Schreibers Gotteshaus ein Trümmerhaufen. Mit hölzernen Übungsgranten schlagen die Männer die Fenster ein, sie reißen sämtliche Leuchter herunter, zerschlagen die Bänke, demolieren die Frauenempore, zerhacken die Sitze des Vorstehers und Rabbiners, zerfetzen die Vorhänge des Thoraschreins, zerreißen die Thorarolle in Stücke. Den großen Chanukka-Leuchter benutzen sie als Brechstange. Die Szene sei schauervoll und bestialisch gewesen, sagt Schreiber später.
Durch Stadt ziehen weitere Männer und verwüsten jüdische Läden. Auch das Herren- und Knaben-Bekleidungsgeschäft in der Schwerdtfegerstraße nahe des Alten Marktes. Der Besitzer Abraham Kallmannsohn berichtet Jahre danach: „Am 9.11. 1938 wurde das Geschäft geplündert, die Einrichtung zerstört und die Waren verschleppt. Ich selbst kam am 9.11. 1938 ins KZ Sachsenhausen, Block 62.“ Nach den Erinnerungen des Rabbiners Schreiber wurden nach der Pogromnacht sämtliche Mitglieder der jüdischen Gemeinde verhaftet, nur die über 70-Jährigen wurden wieder freigelassen.
Wer die Täter sind, ist bis heute nicht abschließend aufgeklärt. Der Potsdamer Historiker Klaus Arlt geht davon aus, dass ausschließlich auswärtige SS–Sympathisanten und –Mitglieder bei der Verwüstung der Potsdamer Synagoge dabei waren. Denn die Potsdamer seien zu vornehm und kaisertreu gewesen, um sich an gewaltsamen Übergriffen zu beteiligen. Andere Historiker bezweifeln das.
„Überall spontane antijüdische Aktionen“, titelt die Potsdamer Tageszeitung am nächsten Tag und berichtet von Übergriffen „entrüsteter Volksgenossen“. Viele Juden gehen danach ins Ausland. Für die, die bleiben, wird das Leben noch schwieriger. Keine fünf Jahre später, am 22. Juni 1943, wird der letzte jüdische Potsdamer deportiert: Wilhelm Kann. Danach galt die Stadt als „judenrein“.
Quellen: „Ich weiß nicht, was mit ihnen geschehen ist“, FH Potsdam, 1999. „Jüdisches Brandenburg“, Klaus Arlt, 2008, Broschüre: „Stolpersteine in Potsdam“.
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