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Landeshauptstadt: Ohne Christbaum

Die muslimische Großfamilie Erol feiert heute auch – nach ihrer ganz eigenen Weihnachtstradition

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Ferhad weiß genau, was Weihnachten bedeutet: „Wenn der Weihnachtsmarkt zu ist“, so der Sechsjährige, „dann ist Weihnachten, denn da kommt der Weihnachtsmann.“ Ferhads Eltern sind 1992 aus der Türkei hierher gekommen, sein Papa und dessen Bruder Idris waren damals sogar die ersten beiden türkischen Schüler Potsdams. Ferhad selbst kennt die Heimat seiner Familie nur aus dem Urlaub.

Darum kennt er sich mit Weihnachten auch besser aus als mit den muslimischen Feiertagen, obwohl er und seine Verwandten gläubige Muslime sind. „Aber wir können hier unsere Feste gar nicht feiern, wie daheim“, erklärt Ferhads Onkel, Idris Erol. Beim Zuckerfest zum Beispiel gehen die Kinder in der Türkei von Haus zu Haus und fragen nach Süßigkeiten. „Wenn sie das hier machen, wundern sich die Leute und fragen sich: ,Was wollen die, es ist gar kein Halloween.““

Auch der 21-jährige Idris Erol hat bereits mehr Weihnachten in Potsdam erlebt als Zuckerfeste in seiner Heimatstadt Midyat. Wie „zu Hause“ in der Provinz Mardin nahe der irakischen Grenze gefeiert wird, weiß er vor allem aus den Erzählungen seiner Eltern. Mit ihnen und all seinen Brüdern, Schwägerinnen, Neffen und Nichten wohnt Idris zusammen in einem Haus in der Innenstadt. Mit seiner Frau Bilmez und der kleinen Tochter Helin sind sie elf Erwachse und zehn Kinder.

Heute wird die Familie ausgiebig frühstücken und dann putzen die Frauen alle Wohnungen ihres Mehrfamilienhauses. So sieht Bilmez“ Planung für Heiligabend im Hause Erol beim gestrigen Nachmittagstee aus. Ihre Nichte, die zwölfjährige Haschira, wird dabei helfen. Währenddessen fährt Haschiras Opa und Belmiz“ Schwiegervater aufs Land, um bei einem Bauern ein Schaf zu kaufen, es gleich vor Ort zu schächten und auszuweiden. Wenn das Familienoberhaupt dann mit dem Tier wieder heim kommt, beginnen die Frauen mit der Küchenarbeit: Essen für über 30 Personen müssen sie vorbereiten, denn es kommen noch die Tanten und Onkels samt Kinderschar aus Lübeck zu Besuch. Belmiz, Haschira und die Frauen von Idris“ Brüdern richten Salate an, kochen Suppen und bereiten den frisch geschlachteten Hammel zu: Der wird mit Reis und Gewürzen gefüllt und dann im familieneigenen Lehmofen gebacken, der auf dem Innenhof steht.

Die Zeit, die das gefüllte Schaf im Ofen schmort, nutzen Belmiz und ihre Schwägerinnen, um mit den Kindern spazieren zu gehen – etwa zur Eisbahn auf dem Luisenplatz oder zu den Vätern, die noch die letzten Gäste für heute im Familien-Imbiss „XXL-Bistro“ in der Brandenburger Straße bedienen. Wenn der Hammel nach „zwei bis drei Stunden“ schön knusprig ist, wird es langsam Zeit, dass Idris Erol und seine Brüder nach Hause kommen. Schließlich müssen sich alle noch in Schale werfen. Und der Braten muss aus dem Innenhof bis ganz nach oben in den Dachboden des Hauses getragen werden.

Dort treffen sich dann alle im riesigen Gemeinschaftswohnzimmer zum Festschmaus. Die muslimische Familie feiert Heiligabend, nur eben nicht als heiligen Abend, sondern als Familienfest – wie jedes Jahr einen Tag nachdem Ferhads Papa, Ömer Erol, mit den Brüdern den Weihnachtsmarktstand vor seinem Geschäft abgebaut hat. Die Kinder sollen in der Schule nicht die einzigen sein, die nicht gefeiert haben, so Idris Erol. Darum bekommen auch alle ein Geschenk. Das ist wichtig, denn „in der Klasse zeigen sich immer alle, was sie bekommen haben“, erklärt Haschira. Was das Mädchen heute bekommt, war gestern noch geheim. Und auch Ferhad und sein achtjähriger Cousin Firad hatten noch keine Ahnung, ob der Weihnachtsmann ihre Wünsche erfüllt: „Ich will einen Roller und eine Ritterburg“, erklärt Ferhad. Und Firad Computerspiele. Die beiden Knirpse scheinen ziemlich sicher zu sein, dass sie bekommen, was sie wollen. Doch die Erwachsenen verraten nichts. Die Geschenke sollen eine Überraschung sein – so will es auch die Erolsche Weihnachtstradition.

Ein Weihnachtsbaum gehört allerdings nicht dazu. Und auch nicht die Socken, die an der Wand des Gemeinschaftswohnzimmers hängen. Die sind kein amerikanisch angehauchter Weihnachtsschmuck, sondern ganz normale „kurdische Hausstrümpfe“, erklärt Idris Erol. Gestrickt hat sie eine Tante der Familie, die noch in Midyat wohnt. Dort tragen die Leute die warmen Wollsocken im kalten Winter in ihren Häusern statt Schuhe. „Aber in Deutschland zieht man ja Hausschuhe an“, meint Idris. Also sind die Erols auf diese umgestiegen und nutzen die bunten Strümpfe nun als Wanddekoration.

Ohne Christbaum, aber mit dem echt kurdischen Weihnachtsbraten wird dann gefeiert. Und nach dem Essen spielen die Kleinen endlich mit den Geschenken und die Großen sitzen bei Tee und türkischen Süßigkeiten zusammen.

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