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Von Anja Priewe: Opfer in der Gerechtigkeitslücke
Wie Mythen den Blick verstellen: Sozialpsychologen und Juristen diskutierten auf einem internationalen Symposium Probleme bei der strafrechtlichen Behandlung von sexueller Gewalt
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Die Annahme, dass der Täter mit dem Messer hinter einem Busch lauert und sein Opfer mit brutaler Gewalt missbraucht, ist weit verbreitet, wenn es um Vergewaltigung geht. Dass der sexuelle Übergriff meist im öffentlichen Raum geschieht, etwa in einem Park, und das Opfer erheblichen Widerstand leistet, ergänzt die Vorstellung von einer „klassischen“ Vergewaltigungssituation.
Doch die Realität sieht anders aus: Lediglich in 30 Prozent der Fälle kannten sich Opfer und Täter zuvor nicht. Dennoch ist die sogenannte „Überfalltheorie“ eine der häufigsten Fehlannahmen, wenn es um sexuelle Gewalt gegen Frauen geht.
Wie es zu solchen stereotypen Vorstellungen kommt, die in der Wissenschaft als „Vergewaltigungsmythen“ bezeichnet werden, war eine der Fragestellungen des internationalen Symposiums „Probleme der strafrechtlichen Behandlung sexueller Gewalt“ in Potsdam. Wissenschaftler aus den USA, Kanada und Europa diskutierten in der vergangenen Woche im Inselhotel Hermannswerder ihre Forschungsergebnisse. Dabei wurde deutlich, dass insbesondere die extrem hohe Schwundquote bei der strafrechtlichen Verfolgung ein großes Problem darstellt. Im angelsächsischen Raum sprechen Wissenschaftler in diesem Zusammenhang von einer „justice gap“, was die Potsdamer Sozialpsychologin Barbara Krahé als „Gerechtigkeitslücke“ übersetzt. Diese bestehe darin, dass trotz hoher Aufklärungsquoten nur ein geringer Teil zur Verurteilung führt. Lediglich 25 Prozent der angezeigten Fälle kommen in Deutschland vor Gericht. In vielen anderen Ländern sind es sogar nur fünf Prozent. Schuld daran sei auch der schwierige Nachweis des Tatbestands, etwa wenn die Frau nach einem Diskobesuch zunächst freiwillig in die Wohnung des Mannes geht. „Hier ist es für das Opfer schwierig nachzuweisen, dass der sexuelle Akt eben nicht im gegenseitigen Einvernehmen stattfand“, weiß Jörg-Martin Jehle, Professor am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Göttingen. „Schwierig wird es auch dann, wenn die Frau gar nicht oder erst sehr spät zum Arzt geht, der eventuelle Spuren feststellen und somit wichtige Beweise sichern kann“, so Jehle.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele Opfer erst gar nicht bei der Polizei melden. Die Dunkelziffer ist gerade bei Sexualdelikten nach wie vor hoch. Aus Scham und Angst schweigen die meisten Opfer. Auch hier spielen Vergewaltigungsmythen eine entscheidende Rolle. Darunter fällt die Behauptung, dass es die Frau mit ihrem Aussehen ja förmlich provoziert hat oder dass sie wohl nicht genug Widerstand gegen ihren Vergewaltiger geleistet hat. „Diese stereotypen Vorurteile führen dazu, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen verharmlost wird und sich die meisten Opfer letztendlich gegen eine Anzeige entscheiden“, weiß Barbara Krahé. Die Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Potsdam spricht in diesem Zusammenhang von einer Schutzfunktion: „Die Annahme, das Opfer hätte die Vergewaltigung durch das eigene Verhalten provoziert, beruhigt das eigene Gewissen. Man glaubt vor sexuellen Übergriffen geschützt zu sein, weil man sich ja selbst anders verhält“, so die Professorin.
Dass die Abwehr der eigenen Angst solchen Vergewaltigungsmythen Vorschub leistet, davon ist Barbara Krahé überzeugt. Selbst bei Menschen, die beruflich mit Vergewaltigungsopfern zu tun haben, finden sich mitunter diese Stereotype. In experimentellen Studien konnte zudem nachgewiesen werden, dass Faktoren, wie etwa die soziale Herkunft des Opfers, durchaus über dessen Glaubwürdigkeit entscheiden.
Die Tagung, die von Barbara Krahé und ihrem Kollegen Professor Gerd Bohner von der Universität Bielefeld organisiert wurde, machte deutlich, wie schwer es ist, diesen Mythen wirksam entgegenzutreten. Barbara Krahé wünscht sich deshalb eine Belebung des wissenschaftlichen Diskurses: „In Deutschland besteht jedoch kaum ein Interesse an dem Thema“, bedauert sie. Das machte nicht zuletzt die Liste der angereisten Gäste deutlich, die von den Kollegen aus dem Ausland klar dominiert wurde.
Ein intensiver Dialog ist jedoch dringend erforderlich, um Vorurteile und Vergewaltigungsmythen abzubauen. Davon ist auch Barbara Krahé überzeugt: Ziel sei es, sich über international einheitliche Forschungsmethoden zu verständigen und damit letztendlich zu einer Verbesserung der strafrechtlichen Verfolgung von Sexualdelikten beizutragen.
Anja Priewe
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