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Landeshauptstadt: Platon auf Spanisch

Wenn andere in die Ferien fahren, schaut Lisa Hannemann in die Bücher. Viel hat sie nicht aufzuholen nach einem Jahr in Chile

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Am Strand von Kreta fasst ein deutsches Urlauberkind einen Entschluss: nie wieder will es sich in der Fremde so verlassen fühlen, weil keiner es versteht. Das Mädchen reist mit der Mutter durch Europa, später nach Thailand und Mexiko. Da spricht die Heranwachsende schon Englisch, auch ein paar Brocken Spanisch. Und dann, im Sommer 2006, wagt sie einen ersten großen Schritt allein: Sechzehnjährig bricht die Potsdamer Humboldt-Schülerin Lisa Hannemann auf nach Chile, in das schmale Land am Pazifik, wo die Jahreszeiten „auf dem Kopf“ stehen und sie deshalb mitten hineinplatzt ins Wintertrimester des Villa Maria Colleges. In Rancagua, einer in Zentralchile gelegenen Bergbaustadt, die vom Kupfer lebt, will Lisa ein Jahr zur Schule gehen und mehr lernen als „nur die Sprache“.

Die Deutsche ist klug. Sie geht zuerst dorthin, wo sie garantiert jeder versteht: in den Chor. Singend öffnet sie sich die Türen und findet Freunde. In ihrer Gastfamilie wird sie liebevoll Tochter genannt, schaut mit den kleinen Brüdern Trickfilme und erweitert auch auf diese Weise ihren Wortschatz. Schon bald beginnt ihr Spanisch zu fließen. Sie kann dem Unterricht folgen, sogar in die Philosophie eintauchen und über Platon und Aristoteles diskutieren.

Lisa wählt am College den humanistischen Zweig, weil sie sich für Politik, Literatur und Geschichte interessiert. In den Sommerferien, Anfang Januar, schreibt sie sich an der Universität von Santiago ein, absolviert einen Wirtschaftskurs für Abiturienten und schreckt selbst vor Fachbüchern nicht zurück. Mit ihrer gleichaltrigen Gastschwester erkundet sie die Metropole. Immer trittfester werden ihre Schritte im fremden Land.

Auf den weit verzweigten Linien chilenischer Busunternehmen erreicht sie die entferntesten Gegenden: den Norden, wo sie sich die Geschichte der Aufständischen in den Salpeterminen erzählen lässt, und den Süden, wo sie Nachfahren von Deutschen trifft, die einst nach Chile kamen, um hier Landwirtschaft zu betreiben. Lisa sammelt Geschichten wie Andenken, sie besucht alle drei Häuser Pablo Nerudas, liest seine Verse im Original. Und sie liest Zeitung, verfolgt die Reformen der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet.

Als im Dezember Pinochet stirbt, sieht sie die Chilenen mit Sekt anstoßen, aber auch, wie andere, die von der Wirtschaftspolitik des Generals profitiert hatten, in Trauer fallen. So wie sich die Deutsche für die Zeit der Militärjunta interessiert, fragen sie ihre Mitschüler nach dem Zweiten Weltkrieg. Lisa erzählt, was sie von ihrer Großmutter weiß und aus Schulbüchern, sie erzählt vom „Tag von Potsdam“ und von der Unterzeichnung jenes Abkommens in Cecilienhof, dessen Beinamen ihre Mitschüler nicht vergessen werden, solange ihnen Lisa im Gedächtnis bleibt.

Und das wird andauern. Nirgends hat Lisa soviel Interesse an ihrer Person verspürt, soviel Anteilnahme und Wärme. Zurück in Deutschland muss sie sich erst an die gemäßigten Temperaturen gewöhnen. Weniger Küsse und Umarmungen. Weniger Aufgeschlossenheit. Man kreist um sich selbst. Die Welt ist kleiner. Aber Lisa genießt es zu Hause zu sein, mit dem Fahrrad wie ein Gast durch ihre Stadt zu fahren, Kultur und Natur zu bestaunen und dunkles Brot zu kauen, auf das sie lange hat verzichten müssen, obwohl sie in Chile in einer Bäckerfamilie lebte.

Ihren Bildungsappetit hingegen hat sie stillen können. Das Zeugnis, dass Lisa mitbringt, ist voller Sechsen und Siebenen; es entspricht einem Zensurendurchschnitt von 1,4. Damit kann sie durchstarten, ohne das 11. Schuljahr wiederholen zu müssen. Per E-Mail hat sie sich in Mathematik auf dem Laufenden gehalten und mit dem deutschen Lehrbuch Aufgaben gelöst. In Informatik hofft sie auf die Hilfe ihrer besten Freundin. Was sie sonst noch verpasst haben könnte, das liest sie in zusammengeborgten Heftern nach. Dies jetzt in den Ferien tun zu müssen, stört Lisa kaum. Ihren Sommerurlaub hat sie bereits im Februar in Uruguay und Argentinien verbracht. Nun steht die Schule auf dem Plan und vielleicht mit Französisch eine weitere Fremdsprache, die sie ihrem Ziel ein Stück näher bringen soll. Diplomatin will Lisa werden, andere Kulturen verstehen und selbst verstanden werden, wo immer es sie hinverschlägt.

Antje Horn-Conrad

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