Landeshauptstadt: Potsdam 2006
Am Ende ist das Ende offen. Potsdam schleicht sich im Schwebezustand ins neue Jahr.
Stand:
Am Ende ist das Ende offen. Potsdam schleicht sich im Schwebezustand ins neue Jahr. Zwei Ereignisse erschütterten die Stadt in den zurückliegenden zwölf Monaten. Vergleichbar sind sie nur darin, dass beide auf einen Abschluss warten. Den wird es aber erst nach der Silvesternacht geben. Wenn am 10. Januar der Prozess gegen die beiden Männer beginnt, die am Ostersonntag den Potsdamer Erymas M. lebensgefährlich verletzt haben sollen. Und wenn am 4. Januar verkündet wird, wo die Mehrheit des Potsdamer Wahlvolkes am liebsten einen neuen Landtag gebaut sehen will.
Gemessen an diesen beiden prägenden Ereignissen war 2006 kein gutes Jahr für Potsdam. Und doch ein entscheidendes. So sehr sich der Überfall auf Ermyas M. ins bundesweite Gedächtnis eingebrannt hat, so sehr bleibt auch die Reaktion der Potsdamer präsent. In Fenstern brannten Kerzen als Lebenslicht für den Deutsch-Äthiopier, der wochenlang mit dem Tod rang. Auf der Straße fanden sich mehr als 4000 Potsdamer, die Farbe bekannten – gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Mit bunten Schals versuchten sie ein Zeichen zu setzen gegen den braunen Fleck, der Potsdam auf der Landkarte plötzlich geworden war. Dass Ermyas M. den Kampf um das Leben gewonnen hat, er Potsdam nicht verlassen hat, er sich weiter gegen Fremdenfeindlichkeit engagiert, das ist bewundernswert und erleichternd. Aber es ist kein Grund, den tiefen Einschnitt im so tolerant und weltoffen geglaubten Potsdam als geheilt anzusehen. Schon bevor Ermyas M. an der Bushaltestelle zusammenbrach, hatten sich rechte und linke Jugendliche über Wochen auf der Straße überfallen, sich halb tot geprügelt. Vor Gericht wurden sie im zurückliegenden Jahr für ihre Taten zur Verantwortung gezogen – ungeschehen macht dies die Gewalt nicht.
Gewalt eskalierte ein weiteres Mal: Im Juni wurde in der Charlottenstraße der 20-jährige David F. während einer Massenschlägerei erstochen. So müssen sich Potsdams Bürger und Politiker auch im Jahr 2007 daran messen lassen, ob sie weiter Zeichen setzen. Projekte und Initiativen gegen den Hass auf Fremde und gegen Gewalt dürfen nicht wieder im Sande verlaufen. Das durch den Schock geweckte Bewusstsein für den Ernst der Lage darf nicht wieder verebben. Selbst wenn die Täter verurteilt sind.
Nicht gut, aber entscheidend war auch das politische Jahr in Potsdam. Im November gab es den großen Knall: Im Stadthaus zerbrach die Schlosskoalition aus SPD, CDU und Bündnisgrünen am wichtigsten Stadtbau-Vorhaben der Nachwendezeit. Zweimal stimmten die Stadtverordneten über den Bebauungsplan für den neuen Landtag auf dem Grundstück des ehemaligen Stadtschlosses ab – und zweimal lehnten sie ihn ab. Was unvorstellbar schien, manifestierte sich in den Voten gleich doppelt und katapultierte das Vorhaben Landtagsneubau und auch seinen stärksten Verfechter, Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD), gefährlich nahe an den Abgrund. Dort kippelt es noch immer, denn nun wird die Meinung der Potsdamer eingeholt – mittels der ersten Bürgerbefragung in der Geschichte der Landeshauptstadt. Das wegen vermuteter Verfassungswidrigkeit höchst umstrittene, aber von einer deutlichen Mehrheit der Stadtverordneten auf den Weg gebrachte Verfahren könnte den Landtagsneubau auf der Schloss-Brache noch möglich machen. Möchte die Mehrheit der Wahlberechtigten, die sich an der Fragebogen-Aktion beteiligen, das Landtagsschloss, scheint der Weg frei. Denn in letzter Not hat Oberbürgermeister Jakobs auf seinen schärfsten politischen Gegner gesetzt: Die Forderung nach einer Bürgerbefragung des PDS-Fraktionschefs Hans-Jürgen Scharfenberg wurde erfüllt, im Gegenzug will dieser mit seiner 18-köpfigen Fraktion der Bürgermeinung folgen – auch wenn sie am Ende Landtagsschloss heißen sollte.
Dass es soweit kommen konnte, offenbart die Schwächen der Führungsriege im Rathaus. Weder Oberbürgermeister Jakobs, noch seine Baubeigeordnete Elke von Kuick-Frenz (SPD) oder der SPD-Fraktionschef Mike Schubert schafften es, die Schlosskoalition und damit eine stabile Mehrheit zusammenzuhalten. Stattdessen landeten die dank der geheimen Abstimmungen gut versteckten „Heckenschützen“ empfindlichste Treffer. Als Konsequenz daraus ein mangelndes Verantwortungsbewusstsein mancher Stadtverordneten anzuführen, reicht jedoch nicht. Die Erschütterung geht tiefer – sie lässt Zweifel an der Politik des Oberbürgermeisters aufkommen, an der Kompetenz der zuständigen Beigeordneten und am Stil der Verantwortlichen in der Landesregierung. Die Entscheidung für den Landtagsneubau, die nach dem eindeutigen Votum des Landtags eigentlich nur noch eine Formalie hätte sein dürfen, war mangelhaft vorbereitet – weil ihre Bedeutung offenbar unterschätzt worden war. Die vielfach als Erpressung aufgefasste Warnung des Finanzministers und Potsdamer SPD-Chefs Rainer Speer, die Stadtverordneten müssten ohne Abstriche dem zustimmen, was das Land geplant habe, verschlimmerte die Lage noch zusätzlich. In dieses Bild passt die Auseinandersetzung der Sozialdemokraten um ihren Stadtverordneten Wolfhard Kirsch. Der Rausschmiss des Griebnitzsee-Anliegers aus der Fraktion scheiterte, Fraktionschef Schubert musste über einen Rücktritt nachdenken. Er blieb, Kirsch blieb, der Konflikt schwelt weiter – und die vormalige SPD-Stadtverordnete Monika Keilholz lief zur Fraktion Die Andere über. Damit ist die Oberbürgermeister-Fraktion mit zehn Stadtparlamentssitzen nun auf das Niveau der CDU abgerutscht.
Was also bleibt politisch gesehen vom Jahr 2006? Eine siegesgewisse PDS und ein geschwächter Oberbürgermeister – selbst, wenn der Weg durchs Hintertürchen Bürgerbefragung doch noch zum Landtagsschloss führen sollte. Die Misserfolge spiegeln sich außerdem in zwei Brachen in der Stadt: der planierten Fläche am Brauhausberg, wo eigentlich bereits die Fundamente für das Freizeitbad nach Entwurf des Stararchitekten Oscar Niemeyer liegen sollten, und der Wildnis zwischen Stern, Drewitz und Kirchsteigfeld. Für das Niemeyer-Bad allerdings gibt es nach dem scheinbaren Aus im Frühsommer – der Wirtschaftsminister lehnte die Förderung ab – nun wieder positive Signale: Nach deutlicher Kostenreduzierung könnten im Februar die Fördergelder freigegeben werden. Die Lage für die Drewitz-Brache aber ist verfahren: Den Bau eines Baumarkts lehnten die Stadtverordneten ab – obwohl es schon der zweite Anlauf des Oberbürgermeisters war, das Vorhaben durchzusetzen.
Wie schön und tröstlich, dass zumindest ein städtebaulicher Meilenstein 2006 seine grandiose Vollendung erlebte: Am 22. September wurde das neue Hans Otto Theater an der Schiffbauergasse in Anwesenheit von Bundespräsident Horst Köhler eingeweiht. Die Architekturkritiker der Feuilletons machten Potsdam zu dem 26,5 Millionen Euro teuren, spektakulären Bau von Gottfried Böhm ausnahmsweise nahezu ausnahmslos Komplimente – und kulturpolitisch war der Jubel ebenso groß: Nach 211 Jahren hat Potsdam endlich wieder einen Theaterneubau! Das rote Wunder blüht nun in voller Pracht und komplettiert gleichzeitig das so ehrgeizige wie einmalige Vorhaben, die Schiffbauergasse zu einem Zentrum für Kultur und Kreativität zu machen.
Wenn Rot die Farbe des Theater-Herbstes war, gilt für den Sommer Schwarz-Rot-Gold: Vier Wochen lang lebten auch die Potsdamer ihr Fußball-Märchen, zogen bei südländischer Hitze zu tausenden über die Fanmeile in der Brandenburger Straße, bejubelten die Klinsmänner und auch die Ukrainer, die ihr Quartier im Seminaris Seehotel bezogen hatten. Eine Auszeichnung für Potsdam – schließlich beherbergte die Stadt als einzige in Ostdeutschland eine Fußball-Nationalmannschaft.
Dass Potsdam in 2006 auch seine weiteren Ost-Spitzenpositionen halten und ausbauen konnte, untermauert die Attraktivität der Stadt. Die Arbeitslosenquote ist niedrig, die Einkommen sind vergleichsweise hoch. Mit der Bonbonfabrik Katjes hat sich erstmals wieder ein produzierendes Gewerbe in Potsdam angesiedelt, gleichzeitig wächst das abgelegene Golm zu einem Ort von bundesweiter Bedeutung für Wissenschaft und Forschung heran. Rückschläge musste allein die Medienbranche hinnehmen: Die Studio Babelsberg AG entlässt knapp 40 Mitarbeiter, die in den benachbarten Parkstudios gedrehte TV-Serie wird eingestellt.
Das Ende ohne Ende: Wie das Jahr 2006 für Potsdam ausgeht, entscheidet sich erst 2007. Doch möglich ist, dass der Schwebezustand für Oberbürgermeister Jakobs ein Dauerzustand wird. Seine Mehrheiten sind wackelig wie nie. Ein Ende? Das kommt vielleicht mit der Kommunalwahl 2008. Dann wird das Stadtparlament neu gewählt.
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