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Blick in die belebte Brandenburger Straße, in der Potsdamer Innenstadt.

© Ottmar Winter PNN

Stadtplaner Reiner Nagel im Interview: „Potsdam hat die Chance, noch lebendiger zu werden“

In Potsdams fand jüngst der Kongress zur Zukunft der Innenstädte statt. Im PNN-Interview spricht Baukulturexperte Reiner Nagel über Pandemiefolgen und autoarme Viertel.

Herr Nagel, die Pandemie hat die Aufmerksamkeit auf die Innenstädte gelenkt. Was sind die wichtigsten Probleme?
Ein wichtiger Faktor ist der Zentralitätsverlust. Innenstädte sind geprägt durch eine Vielfalt an Nutzungsangeboten. Da gibt es alles: Verwaltung, Kultur, Bildung, Kirche und Handel. Aber diese Funktion ist schon vor der Pandemie über Jahrzehnte erodiert. Das ist sozusagen selbstgemachtes Elend. Man hat oft den Handel an die Peripherie gesetzt, weil man dachte, dort wäre er mit dem Auto besser erreichbar. Man hat Hochschulen vor die Stadt gesetzt. Wohngebiete wurden in die Landschaft ausgedehnt. Das hat die Distanzen zu den Innenstädten vergrößert. Das wirkt sich aus. In der Folge sind dort weniger Menschen unterwegs. Die sogenannte Frequenz lässt nach. Der Spaß an der eigenen Stadt geht verloren. In jüngerer Zeit belasten Lockdowns, Inflation und Kriegsangst das Konsumverhalten.

Welche Zukunft haben Innenstädte in Zeiten von Onlineshopping und Remotearbeit? Was soll die Innenstadt leisten?
Räumlich bleibt die Innenstadt, wo sie ist, aber sie wandelt sich. Das ist auch eine Chance, um Fehlentwicklungen zu berichtigen. Zum Beispiel hat man sich in der Vergangenheit auch am amerikanischen Modell der Innenstadt als Businessdistrikt orientiert, also mit vielen Büros. Nun könnte man zu große Handels- und Büroformate zurückfahren hin zu einer Innenstadt für alle mit mehr Grün, mehr Wohnen. Weniger City, mehr Zentrum.

Reiner Nagel, Architekt und Stadtplaner.
Reiner Nagel, Architekt und Stadtplaner.

© Andreas Klaer

Sie haben während des Kongresses in Potsdam auch mit Bürgern gesprochen. Was beschäftigte die Teilnehmenden?
Natürlich wollen alle den Nahversorger in der Nähe. Das Thema hat sich relativ schnell erschöpft. Stattdessen wünschen sich die Bürger mehr Funktionen in der Innenstadt und mehr Grün. Eine junge Mutter will mit ihren Kindern weiter in der Innenstadt wohnen. Die Stadt solle also kindgerechter sein. Wir haben diese Mischung teilweise verloren, aber wir können das zurückgewinnen. 

Die Uni Cottbus hat vor dem Kongress mehr als 100 Interviews in brandenburgischen Städten geführt. Die Menschen wollen Leben und Sicherheit in der Innenstadt. Vielen fehlt Sauberkeit. Sie wünschen sich mehr Gastronomie in Außenbereichen und mehr öffentliche Toiletten. Die Bundesregierung hat auch einen Beirat berufen. Der sieht auch eine Chance für das Handwerk in der Innenstadt: Arbeitsstätten dort anzusiedeln, wo anderes Gewerbe weggeht. Erdgeschosse muss man noch mal gesondert betrachten. In Leipzig ist es beispielsweise verboten, Schaufenster mit Folien abzukleben. Selbst ein leerstehender Laden, in dem irgendetwas abgestellt ist, wirkt interessant. Eine zugeklebte Fläche abweisend.

Der Experte erklärt, warum in Innenstädten oftmals immer weniger los ist.
Der Experte erklärt, warum in Innenstädten oftmals immer weniger los ist.

© Ottmar Winter

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Potsdams Innenstadt hat sich in den vergangenen 30 Jahren stark verändert. Es wurde saniert und neu gebaut. Wo steht die Potsdamer Innenstadt?
Oberbürgermeister Mike Schubert hat bei der Veranstaltung gesagt, wir haben ja keine typische Innenstadt – stattdessen mehrere Viertel mit eigenem Charakter. Ich kann mir schon vorstellen, dass Potsdam die zentrale Funktion der Innenstadt noch herausarbeiten kann. Man könnte versuchen, mehr Hotspots zu bilden, wo auch abends noch etwas los ist. Man kann existierende Treffpunkte stärken, öffentliche Räume qualifizieren. Man kann bestehende Gebäude nutzen und muss nicht alles auf den Kopf stellen. Potsdam hat die Chance, noch lebendiger zu werden.

Potsdam will den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren. Kann das funktionieren? Gibt es Beispiele?
Bei dem Thema ist jeder betroffen. Entweder weil man mit dem Auto nicht gut genug vorankommt oder weil zu viele Autos vor der Haustür sind. Aber mit Abstand betrachtet: Vor 20 Jahren hätten wir das gar nicht diskutiert. Heute ist das selbst in Stuttgart, wo Mercedes sitzt, ein Thema. Der Trend geht in diese Richtung. Weniger Stellplätze, weniger Durchgangsverkehr, eine andere Aufteilung der Verkehrsfläche. Auch die Einstellung hat sich geändert. 

Heute sagen selbst Händler, dass sie keinen Parkplatz vor der Tür für Kundschaft brauchen. Die Autos werden ja auch immer größer. Das verträgt sich nicht mit dem begrenzten Platz. Wenn es mehr Wohnen in der Innenstadt gibt, gibt es dort auch mehr Kinder. Die Akzeptanz für autoarme Innenstädte wird wachsen. Aber dazu braucht man Quartiersgaragen. Nah genug, um angenommen zu werden, aber weit genug entfernt, um nicht zu stören. Und sie müssen flexibel umnutzbar sein, wenn sich in der Zukunft das Mobilitätsverhalten verändert.

Das Interview führte Marco Zschieck.

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