Landeshauptstadt: Präsidentenyacht an der Vorderkappe
Die dritte PNN-Kanutour führte durch das Stadtgebiet und brachte den Teilnehmern manches Aha-Erlebnis: Sie entdeckten den Judengraben, die Insel Hermannswerder – und zur Erholung gab es eine Brauereiführung und ein frisch gezapftes Hausbier
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Die dritte PNN-Kanutour führte durch das Stadtgebiet und brachte den Teilnehmern manches Aha-Erlebnis: Sie entdeckten den Judengraben, die Insel Hermannswerder – und zur Erholung gab es eine Brauereiführung und ein frisch gezapftes Hausbier in der Meierei des Neuen Gartens Wenn die Neumondnacht heraufzieht, erscheint an der Meierei im Neuen Garten die Bierhexe. Sie bespricht den vom Braumeister angesetzten Sud. Ihre Zaubersprüche und die unsichtbare Strahlung des dunklen Mondes verleihen dem Bier ungeahnte Kräfte. Vor allem auf Frauen übt es eine erotisierende Wirkung aus. Überhaupt braue er sein gegenüber dem Pilsner nicht so herbes Bier vorwiegend für die Damenwelt, um ihr die Abneigung gegen das angebliche Männergetränk zu nehmen. Dieses Stück starken „Brauerlateins“ gab Jürgen M. Solkowski zum besten, als er am Sonnabend die fast 40 Teilnehmer der dritten PNN-Kanutour durch sein Reich führte, vom Malzboden ganz oben bis zum Sudhaus mit den kupfernen Gefäßen und Rohren. Mit Vollbart und Lederschürze als Urbild eines Braumeisters erscheinend, hat er dennoch den Schalk im Nacken. Woher er denn das Wasser für sein Bier nehme? Für das Helle aus dem Hahn, für das Dunkle aus dem Jungfernsee, antwortete der Brauer scherzhaft. Dass sein „Meierei Hell“ neben nur drei anderen Gasthausbrauereien gerade den begehrten Großen Ehrenpreis der Deutschen Lebensmittelgesellschaft (DLG) bekommen hat, ließ der bescheidene Mann unerwähnt. Als sich die Paddler im Sudraum ein frisch gezapftes Helles oder Dunkles schmecken ließen, hatten sie schon einige Kilometer in den Armen. Auf dem Gelände des Kanu-Clubs von PNN-Verlagsleiter Stephan Körting herzlich begrüßt, umschifften sie zunächst Hermannswerder. Dabei durchquerten die beiden Boote den engen Judengraben, von den Kapitänen geschickt an den fast bis zum Wasserspiegel hinabhängenden Baumästen vorbei dirigiert. Wohlwollend betrachteten vom Ufer aus Kleingärtner des „Alten Tornow“, die auf ihren Terrassen gerade beim Frühstück saßen, die gelungenen Manöver. Am Ende des schmalen Durchstichs die Frage: Warum heißt er Judengraben? Darauf wusste der Guide, den die PNN auch auf dieser knapp 20 Kilometer langen Rundfahrt über die Potsdamer Stadtgewässer mit an Bord genommen hatten, die Antwort. Der Alte Fritz hatte 1772 den jüdischen Berliner Finanzier Daniel Itzig damit beauftragte, eine heruntergewirtschaftete Lederfabrik auf dem Tornow, die für die Armee arbeitete, wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen. Dem gelang dies hervorragend, und die Familie Hitzig, wie sie sich nun nannte, gelangte in Potsdam zu hohem wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss. Im später von Eduard Hitzig eingerichteten literarischem Salon verkehrte unter anderen der Dichter Adalbert von Chamisso. Den Informationen über die Insel, auf der Clara Hoffbauer bekanntlich ab 1891 die Schul- und Pflegebauten der nach ihrem Mann benannten Hoffbauerstiftung errichten ließ, fügte ein Tourteilnehmer ein unbekanntes Detail hinzu. Hinter einer Plane versteckt liegt im Seglerhafen an der Vorderkappe die Yacht, die einst Wilhelm Pieck, dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR, zur Verfügung stand. Ein Privatinteressent hat das eher bescheidene Boot erworben und will es wieder flottmachen. Ob er es dem Publikum für „Nostalgiefahrten“ anbietet, ist noch ungewiss. Über ein Stückchen freie Havel ging es dann Richtung Alte Fahrt und Freundschaftsinsel. Wieder entspann sich ein heimlicher Wettkampf zwischen den beiden Crews. Schon als am Kanu-Club der Canadier zu Wasser gebracht wurde, hatte Wolfgang Lange seine Mannschaft mit exakten Kommandos angetrieben: Boot drehen - ablegen - auf Kiel - gleichmäßig verteilen - vorwärts, mir nach! Sven Lehnert wusste also, mit dem Welt- und Europameister der 60er Jahre hatte er einen Kanuten der alten Schule zum Konkurrenten, der sein Boot zügig voranzutreiben wusste. Der frühere Juniorenweltmeister setzte dagegen auf Motivation: „Denkt daran, wie wir vorigen Sonnabend bravourös den welligen Schwielowsee überquert haben“, rief er seinem Team zu. Beide Methoden bewährten sich: Nur durch wenige Meter getrennt, bewegten sich die Canadier an der immer noch vom Verfall geprägten Speicherstadt vorbei. „Was könnten hier für wundervoll am Wasser gelegene Wohnungen entstehen“, rief eine Paddlerin aus und musste sich bald darauf wie die anderen in der Alten Fahrt konzentrieren, Schwimmern und Tauchern nicht in die Quere zu kommen. Die zelebrierten dort gerade eine neue Trend- oder Funsportart, deren ultimativer Kick darin besteht, sich von einer Rampe mit dem Fahrrad ins Wasser zu stürzen. Darauf verzichteten die Wasserwanderer und eilten mit zügigem Schlag, der angesichts des sonnigen, aber nicht zu warmen Wetters diesmal besonders leicht fiel, der Schiffbauergasse entgegen. Vor der wochenendstillen Kulisse von VW-Designcenter, wo der Autobauer neue Mittelklassemodelle entwickelt, der vom Softwareunternehmen Oracle genutzten früheren Koksseparation des Gaswerkes, dem bald fertigen Theaterbau und der alten Zichorienmühle, die Restaurant werden soll, herrschte auf der „John Barnett“ rege Geschäftigkeit. Mit der Schiffsgaststätte, zu der der uralte Lastkahn „Aviso“ umgebaut wurde, haben die Berlinerin Petra Huse und der Badener Clemens Lambrecht dem „integrierten Kultur- und Gewerbestandort“, wie er so schwerfällig heißt, einen liebenswerten Farbtupfer hinzugefügt. Mit dem neuen Schiffsnamen erinnern die beiden an den Engländer John Barnett Humphreys, der hier von 1817 bis 1819 Dampfschiffe baute. Nach der Pause in der Meierei im Neuen Garten stieg die lustige Truppe erholt in die Boote. Auch die Rücktour wurde kein Problem, zumal Gegenwind und Wellenschlag ausblieben, die Lehnert vorausgesagt hatte. Einmal noch gab es an der Glienicker Brücke einen Stopp, um an den legendären Agentenaustausch des in der Sowjetunion 1960 vom Himmel geholten U2-Aufklärungspiloten Gary Powers gegen den führenden Kopf des russischen Spionagenetzes in den USA, Oberst Rudolf Abel, zu erinnern. Staatschef Nikita Chruschtschow hatte Powers Abschuss genutzt, um den Deutschlandgipfel in Paris platzen zu lassen. Darüber wussten die Tourteilnehmer hinlänglich Bescheid. Doch dass der Sohn des Piloten, Gary Powers jun., der im Frühjahr die Glienicker Brücke besuchte, inzwischen in den USA ein Museum des Kalten Krieges gegründet hat und dort Nikita Chruschtschows Sohn Sergej mit im Kuratorium sitzt, das war ihnen neu. Am kommenden Sonnabend enden die PNN-Kanutouren. Dafür waren zunächst 35 Kilometer rund um die Insel Potsdam vorgesehen. Das wäre ein bisschen lang, aber Sven Lehnert gab den Paddlern die Nachricht mit auf den Weg, dass der Kanu-Club die Strecke auf ein erträgliches Maß verkürzen wird. Jeder kann also wiederkommen ...
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