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Landeshauptstadt: Rassistische Eingriffe

75 Jahre Erbgesundheitsgericht Potsdam

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Innenstadt - Heute vor 75 Jahren, am 10. März 1934, trat das Potsdamer Erbgesundheitsgericht erstmals zusammen. Es basierte auf dem „ Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Nationalsozialisten am 14. Juli 1933 erließen. Bis zum November 1944 verhandelte das in der Lindenstraße 54 tätige Gericht die zwangsweise Unfruchtbarmachung von etwa 4100 Menschen – „ein verheerender Eingriff in die Autonomie des menschlichen Individuums“, wie die Potsdamer Historikerin Almuth Püschel gestern bei einer Gedenkveranstaltung vor dem Haus Lindenstraße 54 erklärte. Das jüngste Opfer des Potsdamer Gerichts sei ein 11-jähriges Mädchen gewesen, das älteste ein 45-jähriger Mann, ein arbeitsloser Schneider, der unter Epilepsie litt.

Wie Gabriele Schnell von der Gedenkstätte Lindenstraße ankündigte, wird ab 2010 ein Ausstellungsmodul über die Lindenstraße 54 in der NS-Zeit informieren, das derzeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) erarbeitet wird. Lutz Boede (Die Andere) und Marcus Pilarski vom Bund der Antifaschisten forderten, auf das Erbgesundheitsgericht müsse eine eigene Tafel am Eingang hinweisen.

Insgesamt wurden der Historikerin Püschel zufolge „rund 400 000 Menschen, die an einer körperlichen oder geistigen Krankheit litten oder nur im Verdacht standen, daran zu leiden, zwangsweise sterilisiert“. An dem Eingriff seien etwa 5500 Frauen und 600 Männer gestorben. Almuth Püschel zufolge war die Sterilisation von Erbkranken keine originäre NS-Forderung. Rassenideologisches und sozialdarwinistisches Denken habe Anfang des 20. Jahrhunderts zu politischen Strömungen geführt, die sich einer „Verbesserung“ der menschlichen Rasse verschrieben. Auch in England und den USA habe es diese Bewegungen gegeben. Mehrere deutsche Länder hatten bereits in den 1920er Jahren Sterilisationsgesetze. Im Sommer 1932 habe in Preußen ein Gesetzentwurf vorgelegen.

Als unabdingbare Voraussetzung haben diese Gesetze aber die Einwilligung der Betroffenen gefordert, stellte Almuth Püschel klar. In der NS-Zeit hätten die Opfer dagegen keine Chance gehabt, einer beschlossenen Sterilisation zu entgehen. Almuth Püschel: „Die Idee des Gesetzes war durch und durch rassistisch.“ Der Umgang mit den Opfern sei in Ost und West „ein beschämendes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Viele beteiligte Ärzte hätten auch nach 1945 praktizieren können. Die Opfer seien von Entschädigungen ausgeschlossen worden. Erst 1998 hob der Deutsche Bundestag sämtliche Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte auf. Guido Berg

„Ich rechne für jeden Fall 20 Minuten“ ist ein Vortrag über das Potsdamer Erbgesundheitsgericht, den Dr. Petra Fuchs heute ab 19 Uhr am ZZF hält. Ort: Am Neuen Markt 9d

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