"Von Herzen"-Weihnachtsfeier der Awo in Potsdam: Rentier Rudi war auch dabei
Zum siebten Mal lud die Arbeiterwohlfahrt Bedürftige zu einem Weihnachtsfest ins Dorint-Hotel. Es gab natürlich auch Gans.
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Ingo Kühne hat eine mächtige Stimme. „Ryou, Lena Marie! ZM!“ ruft er durch den großen Saal, in dem rund 400 Kinder und ihre Eltern nicht gerade leise auf das Essen warten. Ryou ist japanisch und bedeutet so viel wie „Ein Guter“, ZM ist die Abkürzung für „Zu Mir“. In Windeseile sprinten die beiden zehn und elf Jahre alten Kinder zu ihrem Großvater. Der 55-Jährige aus dem Schlaatz hat gleich seine gesamte Familie mitgebracht zum Weihnachtsessen der Arbeiterwohlfahrt (Awo) im Dorint Hotel und zeigt sich stolz an der Seite seiner beiden Enkel.
Am gestrigen Montag feierte die Awo bereits zum siebten Mal die „Von Herzen“-Weihnachtsfeier, knapp 900 Menschen waren eingeladen, um gemeinsam ein vorgezogenes Weihnachtsessen zu genießen. Zunächst gab es ein paar kurze Reden von Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD), Sozialdezernentin Elona Müller-Preinesberger (parteilos), Brandenburgs Sozialministerin Diana Golze (Linke) oder der stellvertretenden Vorsitzenden der Awo, Gisela Netzeband – und natürlich Weihnachtslieder und Geschenke für die Kleinen. Am frühen Abend wurde dann das Essen serviert. Neben Gans mit Rotkraut und Klößen wahlweise auch Huhn, Schweinebraten oder Kassler.
Um die Wartezeit für die vielen Kinder erträglich zu machen, hatten die Organisatoren einen Spielraum zum Basteln, Schminken und für Sport eingerichtet. Besonders viel los war vor dem lebensgroßen Stoff-Rentier, das geduldig darauf wartete, zusammen mit den Kleinen fotografiert zu werden. Es habe keinen Namen, sagte eine Awo-Mitarbeiterin, Man könne es durchaus Rudi nennen, auch wenn es keine rote Nase habe.
Für die meisten Gäste ist ein privater Besuch im Hotel wohl unbezahlbar. Sie leben auf der Straße, im Obdachlosenheim oder sind Kunden der Tafel. Auch viele Flüchtlingsfamilien waren gekommen. Draußen im Foyer gab es schon mal einen Punsch, natürlich ohne Alkohol, wie der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) Brandenburg, Olaf Lücke, sagte. Nicht allen gefiel das. „Er wolle aber einen Glühwein mit Alkohol“, insistiert ein älterer Mann, gibt dann irgendwann auf und nippt missvergnügt an dem Becher mit heißem Apfelsaft.
Aber was ist eigentlich passiert mit Ingo Kühne, der gar nicht danach aussieht, als sei er auf Hilfe angewiesen? Kräftig ist er, mit einem Bäuchlein, und er ist Freund mittelalterlicher Literatur. Seit sechs Jahren sei er nun im Vorruhestand, erzählt der knapp 1,90 Meter große Hühne mit dem auffälligen Käppi. Er sei als Lastwagenfahrer in ganz Europa unterwegs gewesen. Dann bekam er einen Schlaganfall, war halbseitig gelähmt und konnte nicht mehr arbeiten. Die Reha habe lange gedauert, jetzt gehe es ihm gesundheitlich wieder ganz gut. Schließlich sei er aber in Rente geschickt worden. „Von 2300 Euro monatlich musste ich auf 620 Euro runter, in kurzer Zeit. Das war hart“, sagte Kühne. Die Einladung zu dem Weihnachtsessen bekam er von der Potsdamer Tafel. Ohne die dortigen Lebensmittel komme er nur schwer über die Runden, erzählt er. Jeden Dienstag sei er dort.
Manchmal spielt einem das Leben böse mit. Auch seine Frau ist schwer krank, beide Hüften funktionieren nicht mehr, sie liegt derzeit in Birkenwerder in einem Krankenhaus und wurde dort vor ein paar Tagen operiert. Fröhlich wirkt Ingo Kühne, trotz des harten Schicksals. „Ich freue mich immer, wenn Turbine Potsdam spielt, oder Babelsberg 03. Dann gehe ich ins Stadion und sammle Pfandflaschen ein.“ Was er mit dem Geld macht? Mit den Enkeln in den Berliner Tierpark gehen oder wie jetzt vor Weihnachten ein Geschenk kaufen. „Zwei gebrauchte Laptops habe ich für die beiden bekommen.“ Ingo Kühne strahlt und rückt sich die Mütze mit den Anti-Nazi-Stickern und – ganz wichtig – dem MZ-Sticker zurecht. Kühne fuhr früher auch Motorrad, in diesem Fall eine MZ-Maschine aus DDR-Produktion.
Mehrere Tage lang haben die Mitarbeiter des Hotels die fast 1000 Gerichte in der Küche vorbereitet – ehrenamtlich und für einen guten Zweck, um den Bedürftigen eine Freude zu machen. Denn in vielen Gesichtern sieht man sprichwörtlich die Sorgen. Das Fest wird zum großen Teil über Spenden finanziert, auch viele andere gemeinnützige Organisationen halfen bei der Versorgung der Gäste.
Genaue Zahlen zur Obdachlosigkeit in Potsdam gibt es nicht. Der Verein Potsdamer Tafel rechnet für dieses Jahr mit bis zu 20 Prozent mehr Kunden. Derzeit nutzten mehr als 1000 Bedürftige wöchentlich das Angebot, davon etwa ein Drittel Kinder.
Für Ingo Kühne jedenfalls sind auch die Feiertage schon verplant. Dann geht es zu seiner Frau, die noch in der Klinik in Birkenwerder liegt. Die „ganze Bande“ kommt mit, die drei Kinder Marcel, Sigwiena und Tabata plus Anhang. In drei Autos, die von Freunden aus dem Ruhrgebiet zur Verfügung gestellt werden.
Stefan Engelbrecht
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