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Landeshauptstadt: Rückkehr nach 60 Jahren

Der US-Schriftsteller Joel Agee besuchte den Ort seiner Jugend: Groß Glienicke

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Groß Glienicke – Das Fresko an der Wand ist verschwunden, anstatt Pennälertischen sind es Stuhlreihen, auf die Joel Agee im Bürgerhaus Groß Glienicke blickt. 1948 befand sich hier sein Klassenraum, 60 Jahre später ist der 68-Jährige an gleicher Stelle. Am Sonntag stellte er sein Buch vor „Zwölf Jahre. Eine Jugend in Ostdeutschland“. Der amerikanische Schriftsteller lebte als Kind zusammen mit seiner Mutter Alma, Halbbruder Stefan und seinem Stiefvater, dem Schriftsteller Bodo Uhse zwischen 1948 und 1955 in Groß Glienicke.

Es ist ein halbes Klassentreffen, eine Zusammenführung von früheren Freunden und Nachbarn. Agee, der als Holtzbrinck Stipendiat an der American Academy derzeit in Deutschland weilt, stach mit seinen vorgetragenen und niedergeschriebenen Erinnerungen – das Buch war jahrelang vergriffen, wird aber im Frühjahr 2009 vom Hanser-Verlag wiederaufgelegt – in die Vergangenheit vieler einstiger Weggefährten.

Für Joel Agees Mutter Alma war es als Jüdin schwer, sich in Deutschland niederzulassen, erzählte ihr Sohn. „Sie litt unter sehr zwiespältigen Gefühlen, immerhin war es das Land, in dem Juden systematisch vernichtet wurden.“ Zum anderen galt sie als Exotin unter den Groß Glienicker Frauen, fand nicht so einfach Anschluss. „Sie war auch eine Erscheinung, vor allem, wenn sie mit einer Blume im schwarzen Haar auf dem Pferd durch den Ort ritt“, rekapitulierte eine Zuhörerin die Bilder aus der damaligen Zeit.

Die Familie Uhse-Agee hatte Sonderrechte in Groß Glienicke: einen Chauffeur, ein Dienstmädchen, ein Pferd, zwei Autos. „Wir hatten schon einen kapitalistischen Haushalt“, bewertete es der Ex-Chauffeur Jochen Rennert, der am Sonntag neben Joel Agee saß. „Im Grunde hat Bodo Uhse das erhalten, gegen das er Zeit seines Lebens kämpfte: Privilegien“, fasste es Agee zusammen. Die Dorfgemeinschaft guckt misstrauisch auf die „Bohemiens“. „Joel hatte immer offene Schnürsenkel, trug bunte Sachen, hatte einen wirren Haarschopf“, erinnert sich ein Zuhörer, der damals Nachbar war. „Auf der Terrasse hing immer irgendetwas auf der Leine, selbst am Sonntag“, zitiert er die damaligen Kommentare der Erwachsenen. Joel Agee selbst fühlte sich schnell sehr wohl im Dorf vor den Toren Berlins: „Ich wollte nicht Ausländer sein, sondern Teil dieses Landes werden“, rekapitulierte Agee seine damalige Einstellung.

Der amerikanische Akzent, den er am Anfang noch auf der Zunge hatte, wirkte auf die Groß-Glienicker Jugend. „Als ich das erste Mal auf Kinder traf, ging gleich die Fragerei los: “Bist du wirklich ein Ami?““, erinnert sich Agee. Ohne die Übersetzertitel von Chauffeur und Beschützer Rennert wäre die Verständigung anfangs schwer gewesen, gestand Agee. In der Schule jedoch lernte er schnell die deutsche Sprache, die er heute noch immer akzentfrei beherrscht. „Er war sowieso ein Genie“, tönte ein einstiger Klassenkamerad aus den Besucherreihen. „Einmal schrieb er nur die Überschrift seines Hausaufsatzes ins Heft, als die Lehrerin ihn aufrief, um die Arbeit vorzulesen. Und Joel erzählte frei eine Geschichte. Ab da war ihm die Bewunderung sicher.“ Der Schmu flog trotzdem auf, denn die Lehrerin wollte die Hausaufgabe abzeichnen und bekam nur weiße Blätter zu Gesicht. Die Note eins behielt er trotzdem laut den Erinnerungen des Mitschülers.

Übrigens, auch das Fresko im einstigen Klassenzimmer hat natürlich eine eigene Geschichte. Das Bild von einem Bauern und seiner Frau bei der Arbeit wurde durch die Schüler verändert, „sexualisiert“, wie Agee anmerkte. Der darunter befindliche Spruch „Die Bauern sichern unsere Ernährung“ erfuhr eine Anpassung: „Die Bauern sichern unsere Vermehrung.“ Agee vergaß jedoch nicht, das Ende zu erzählen. „Als der Rektor streng fragte, wer das gewesen sei und sich niemand meldete, wurde entschieden: Nachsitzen! Für die ganze Klasse!“ KG

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