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„Lesarten“: Ein Kolloquium zur Erinnerung an den verstorbenen Germanisten Prof. Helmut John

„Lesarten“: Ein Kolloquium zur Erinnerung an den verstorbenen Germanisten Prof. Helmut John Lässt sich der Geburtstag von jemanden feiern, der gerade ein halbes Jahr zuvor gestorben ist? Einem Jubilar die Ehre erweisen, wenn er sie nicht mehr entgegen nehmen kann? Am 7. Oktober wäre der Potsdamer Germanist Helmut John 70 Jahre alt geworden. Seine Kollegen fanden, das Richtige wäre ein postumes Geschenk in Form eines Kolloquiums, das die Relevanz seiner Forschung und Lehre untersucht. Um den Verstorbenen selbst ging es scheinbar nur am Rande, denn keiner der acht Vorträge stellte Johns Person in den Mittelpunkt. Diese Intention erscheint jedem naheliegend, der ihn einmal kennen lernen durfte, seine rücksichtsvolle Freundlichkeit und ansteckende Lust an theoretischen Debatten. Bis 2003 gab John Seminare und Vorlesungen, mit seiner maßgeblichen Unterstützung wurde vor zehn Jahren das Unidram-Festival ins Leben gerufen und noch ein paar Jahre vorher kämpfte er um den Erhalt der Potsdamer Germanistik. Vier Jahrzehnte hat John in Potsdam gewirkt. Nach seinem Studium an der damaligen Pädagogischen Hochschule arbeitete er als Assistent, später als Dozent und schließlich als Professor für Literaturtheorie. Noch in seinen letzten Monaten betreute er Dissertationen und stand für Gespräche zur Verfügung. Über seine Krankheit sprach er kaum, stattdessen suchte er die Diskussion über neue Bücher, dabei das selbst ausübend, was im Zentrum seines Forschungsinteresses stand: die Literaturrezeption. In der Lehre setzte er den Begriff „Lesarten“ durch, um die Vielfalt von Rezeptionsmöglichkeiten zu benennen. Unter gleichem Titel fand das Kolloquium an seinem früheren Arbeitsplatz in Golm statt. Nicht nur Kollegen saßen unter den rund 50 Gästen, sondern auch seine drei Kinder sowie solche Schüler, die eine andere als die akademische Laufbahn wählten. Etwa Lehrerinnen oder auch ein Buchhändler, der in den Diskussionen immer wieder das Zuviel an Theorie monierte, um dann selbst eifrig mitzutheoretisierten. Die grundsätzlichsten Vorträge kamen von den jüngsten Schülern Johns. Tim Reiß, der durch Johns „nie aufdringliche Begeisterung für theoretische Texte“ seine eigene Begeisterung für Philosophie entdeckte und nun kurz vor seinem Studienabschluss steht, untersuchte in seinem Vortrag das Verhältnis von Ideologie und Literaturwissenschaft in der DDR. Seine kritische Bestandsaufnahme einer „rezeptionsästhetischen Wende“ in den 70er Jahren führte bereits am Vormittag zu einer ersten Überziehung der vorgesehen Diskussionszeit, zeigte aber auch die Fruchtbarkeit der Konfrontation einer historisch unbeteiligten Perspektive mit den Akteuren und ihren Reflexionen. Die Dissertation von Dirk Pilz, heute Redakteur bei „Theater der Zeit“, konnte John zwar noch betreuen, aber nicht mehr begutachten. Pilz“ Vortrag provozierte und beeindruckte gleichermaßen. Methodenehrlichkeit fordernd, unterzog er den Begriff Methode selbst einer stringenten Analyse, mit polemischen Seitenhieben auf unreflektiertes sich Bedienen aus dem „Methodeninventar“. Da der viel beschäftigte Journalist frühzeitig gehen musste, konnte er die Wirkung seines Vortrags kaum auskosten. Doch ohnehin hatte sich anscheinend proportional zu der Anzahl der Vorträge das Diskussionsbedürfnis zum Abend hin vervielfacht. Mit einer Verspätung von anderthalb Stunden endete das Kolloquium. Nicht auf dem Podium, sondern am Ausgang stand ein Foto Johns: sinnend und verschmitzt lächelnd am Katheder. So als hätte er im Hintergrund den ganzen Tag zugehört. Die intensiven Debatten hätten ihm wohl gefallen. So wie ein guter Lehrer auf seine selbst denkenden Schüler stolz ist. Zum Auftakt des Kolloquiums hatte ihn einer der Veranstalter vom Institut für Germanistik mit dem Brecht-Wort charakterisiert: „Er hat Vorschläge gemacht.“ Lene Zade

Lene Zade

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