DICHTER Dran: Sanssouci und Hysterie
Plötzlich kommt mir alles zu leicht vor. Mein Kopf, der nicht mehr von Mützen nach unten gedrückt wird, mein Körper, der nach zweimonatiger Dauerbelastung endlich vom Alpaca-Pulli befreit wurde, der Himmel hat sich nach oben verlängert, das Auto lässt sich am kleinen Finger aus der Parklücke lenken.
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Plötzlich kommt mir alles zu leicht vor. Mein Kopf, der nicht mehr von Mützen nach unten gedrückt wird, mein Körper, der nach zweimonatiger Dauerbelastung endlich vom Alpaca-Pulli befreit wurde, der Himmel hat sich nach oben verlängert, das Auto lässt sich am kleinen Finger aus der Parklücke lenken. Die Straßen wirken ohne Schneeberge nackt; sunset- strip, wo man hinschaut. Bei zwei Grad über null überkommt mich das dringende Bedürfnis nach Sonnencreme und Flipflops, bei Vogelgezwitscher möchte ich den Parkwächtern weinend um den Hals fallen und wenn sie träumerisch zusehen, wie das Eis der Havel auftaut, auch. „Du bist hysterisch“, sagt eine Freundin, „Gefühlsduselei, Exaltiertheit, die ganze Palette!“ Ich habe mich belesen: Hysterie sagt man nicht mehr. Man sagt jetzt histrionische Persönlichkeitsstörung oder dissoziative Störung oder psychoreaktives Syndrom. Solche Syndrome begegnen mir in den letzten Tagen allerdings dauernd: die Stadtverordneten entdecken, dass sie in einer Medienstadt leben und wollen sich bei der Arbeit filmen lassen. Margot Käßmann schießt volltrunken über die rote Ampel. Selbst im Landtag hat man die idealistischsten Einfälle. In Eiseskälte würde niemand Polizeistellen streichen. Eher würden zusätzliche 30-Zonen mit Blitzer eingerichtet und die so durchfinanzierte Polizei zum Schneeschieben eingesetzt. Auch die Graffiti-Schnörkel, die mit zwanzigjähriger Verspätung jetzt an meiner Hausfront prangen, lassen sich nur mit dem Gefühlsdusel eines berauschten Phantasten erklären. Ernste Anarchos verachten Spraydosen, seit man die Farben vorgemischt im Laden bekommt. Selbst meine Katze dreht bei diesem Wetter durch und fängt an, hündisch heulend zu miauen. Wenn das keine Persönlichkeitsstörungen sind! Sie führen zu zwei wesentlichen Erkenntnissen.
Erstens: Schloss Sanssouci wurde nach einem strengen Winter errichtet zur Beruhigung des Königs, der vor Hysterie auch nicht gefeit war. Sonst hätte ihm ein Windhund gereicht.
Zweitens: Manchmal gibt es das Bedürfnis, sich bei anderen der eigenen Existenz zu versichern.
Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Antje Rávic Strubel
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