
© Andreas Klaer
Von Guido Berg: Schein-Erschießung in der Kiesgrube
Der Potsdamer Peter Seele, einst Gefangener des sowjetischen Geheimdienstes, erhielt Kopien aus der Haftakte
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Nauener Vorstadt - Sie fahren mit ihm von der Lindenstraße in Richtung Bornim. Sie biegen in die Hugstraße ein und erreichen eine Kiesgrube. Sie binden Peter Seele eine Augenbinde um. Ein russischer Geheimdienstagent brüllt, wenn er nicht unterschreibe, dass er ein Spion sei, werde er erschossen. „Ich weiß nicht mal, wie man Spion schreibt“, ruft der 23-Jährige. Plötzlich Maschinenpistolen-Feuer. „Rhappapap“, macht Seele das Geräusch der Kalaschnikow nach, dass er noch immer im Ohr hat, 60 Jahre später. Stundenlang könnte er berichten, wie es war damals, als NKWD- Gefangener in den Potsdamer Gefängnissen Lindenstraße und Leistikowstraße. Und da sie ihn nicht erschossen haben, damals in der Bornimer Kiesgrube, kann er auch berichten von der Geheimdienst-Zentrale Lubjanka in Moskau und vom nordrussischen Gulag Workuta. Nach dem MPi-Salven in Bornim brachen Seele damals die Beine weg, er wurde erst wieder wach, als er wieder zurück war im Gefängniskeller. Schon seine Gefangennahme am 9. Oktober 1951 begann so: „Sie hielten mir gleich einen Ballermann an den Kopf.“
Gestern erhielt Peter Seele aus den Händen der Historikerin Ines Reich die Kopien von 36 Dokumentenblättern aus seiner Haftakte. Diese Dokumente, darunter Fotos, die ihn als jungen Mann von vorn und im Profil zeigen sowie Bögen mit seinen Fingerabdrücken stammen aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau. Ines Reich, Leiterin der heutigen Gedenkstätte Leistikowstraße, erklärte bei der Dokumentenübergabe, der Historiker und Geheimdienstexperte Nikita Petrow, auch Mitglied der internationalen Menschenrechtsorganisation Memorial, habe im Auftrag der Gedenkstätte die Kopien in Moskau erstellen können. Diese Auszüge aus der Haftakte belegten nicht nur den Workuta-Aufenthalt Seeles. Eindrucksvoll beweisen die Fotos von ihm, die nach der Gefangennahme gemacht wurden, dass er zur Untersuchungshaft in die Leistikowstraße gebracht wurde. Der Hintergrund der Fotos zeigt das Streifen-Fundament der Nordfassade des Gefängnisses. Ines Reich: „Man sieht einen Mauervorsprung, der nur in der Leistikowstraße vorkommt.“ Anhand von Rillenstreifen in der Fassade gelang es der Gedenkstättenleiterin, sogar bei weiteren ehemaligen Gefangenen anhand der erkennungsdienstlichen Fotos deren Haft in der Leistikowstraße zu belegen.
Hinsichtlich seiner Haft in der Lindenstraße hat Seele bereits zuvor Verhörprotokolle erhalten. Sie sind in russischer Sprache, doch Seele hat sie sich übersetzen lassen. Demzufolge haben ihn Leute belastet, die er gar nicht kannte. „Lüge, Lüge, Lüge“, so Seeles Kommentar. Als Kraftfahrer in einer sowjetischen Einrichtung angestellt, sollte Seele vom russischen Geheimdienst als Spitzel angeworben werden. Seele lehnte ab und wurde daraufhin als „Spion“ angeklagt und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Das hielt die russischen Geheimdienstmitarbeiter nicht davon ab, ihm in den Kellern der berüchtigten Lubjanka in Moskau ein Totenhemd überzustreifen und ihn wiederum glauben zu lassen, er werde nun erschossen.
Die kritische Zusammenschau von Dokumenten und Zeitzeugen-Aussagen belegen, „mit welchen perfiden Methoden, mit welcher bestimmten Dramaturgie“ gearbeitet wurde, erläutert die Historikerin Reich: „Wer in die Fänge des Geheimdienstes gelangte, kam nicht mehr heraus.“
„Ich lebe noch“, sagte Peter Seele immer wieder. „Viele haben es nicht geschafft.“ Seine Frau sage immer, „Du bist ein Sibirier, du lebst länger“. Und weil das so ist, kann Seele berichten, wie ihm ein russischer Offizier in der Lindenstraße 54 – bis 1954 NKWD-, danach Stasi-Gefängnis – mit einer brennenden Zeitung das Gesicht versengte. Eine Sekretärin schüttete ihm ein Glas Wasser ins Gesicht. Seele: „Das war die Lindenstraße.“
Seele kann aber auch erzählen, wie sie im Bergwerk in Workuta Pechblende fanden. „Das war ein Feiertag“, es gab ein Extraessen. Aus Pechblende wird Uran gewonnen, Grundstoff für Atombomben und Atomkraftwerke. Nachdem sie eine Probe von dem Zeug abgebaut hatten, durfte Seeles Schicht auffahren. „Als wir oben waren, wurde uns sauschlecht. So sehr strahlt die Pechblende.“
Eine schöne Anekdote ist auch die von dem gebratenen Igel. Ein Mithäftling in Workuta hatte ihn gefangen, die Stacheln entfernt und zubereitet. „Es roch wie gebratene Ente.“ Zuerst ließen sie einen Wachsoldaten kosten; letzten Endes haben sie alle von dem Igel gegessen. Seele: „Es hat nur ein bisschen Salz gefehlt.“
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