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Von Nicola Klusemann: Schreckliches Meeresrauschen

Seit fünf Jahren lernen Träger von Ohrprothesen im Hörtherapiezentrum Potsdam neu zu hören

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Sie hört ein Geräusch. Und bleibt stehen. „Was ist das“, fragt die 89-Jährige erschrocken ihre Tochter, die sie aus dem Krankenhaus begleitet. Der alten Frau wurde eine Mittelohrprothese implantiert und nun der Sprachprozessor an die Schaltstelle angeschlossen. „Das sind deine Schritte“, erklärt die Tochter.

Ein völlig neues Gefühl für die fast 90-Jährige, die vor dem operativen Eingriff schon einige Zeit taub „und damit abgeschnitten von der Welt war“, sagt Dr. Sandra Scholz, Leiterin des Hörtherapiezentrums (HTZ) in Potsdam. Die alte Dame ist die älteste Patientin in der anerkannten Rehabilitationseinrichtung für stark Hörgeschädigte mit Implantat.

Auf Initiative der Gesellschaft für Integrative Hörrehabilitation e.V. wurde das Therapiezentrum vor fünf Jahren gegründet; damals noch in zwei Räumen an der Straße Am Kanal und drei Mitarbeitern, bis die Einrichtung noch im Gründungsjahr in das Käthe-Kollwitz-Heim in der Waldstadt umzog. In der Anfangszeit betreute das HTZ in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt rund 30 Jugendliche und Erwachsene. Inzwischen habe sich der Patientenstamm verzehnfacht, sagt Leiterin Scholz. Jedes Jahr kämen rund 50 Patienten hinzu. Unter den über 300 Implantatträgern aus dem Flächenland Brandenburg seien 29 Potsdamer; auch 14 Kinder aus der Schule für Hörgeschädigte am Bisamkiez würden über das Hörtherapiezentrum versorgt. Das ursprüngliche Betreuungsteam sei von drei Mitarbeitern auf eine neunköpfige Mannschaft angewachsen, die sich aus Ärzten, Akustikern, Logopäden, Sprechwissenschaftlern, Psychologen, Buchhaltung und Patientenmanagement zusammensetzt.

Als man 1984 in Hannover begann, die ersten Cochlea Implantate (CI) einzusetzen, habe man zunächst junge Menschen mit der neuen Hörtechnik versorgt, sagt Prof. Dr. Rolf-Dieter Battmer, Leiter des Zentrums für klinische Technologieforschung und Berater des HTZ. Mittlerweile habe sich die Altersstruktur gewandelt, etwa zwei Drittel der Implantierten seien über 60 Jahre. Grundsätzlich lohne es sich immer, einem Menschen einen Teil seiner Hörfähigkeit zurückzugeben, sagt der CI-Experte und verweist auf das Beispiel der 89-Jährigen. 20 000 Euro koste die Hörprothese, Operation und Anschlussreha etwa 10 000 Euro : Kosten, die die Krankenkassen inzwischen komplett übernähmen, so Battmer. Deutschlandweit gebe es etwa 30 Kliniken, die Hörprothesen einsetzten, das Land Brandenburg werde vor allem durch das Unfallkrankenhaus Berlin versorgt. Geeignet für eine solche Hörhilfe seien postlingual Ertaubte, „also Menschen, die ein Sprachverstehen haben“, erklärt Battmer. Aber auch den Kleinsten würden schon CIs eingesetzt. Für sie sei das elektronische Hören ganz normal, sagt Battmer. Sie lernten damit Sprechen. Anders bei den erwachsenen CI-Trägern, die sich zunächst an die neue Geräuschübertragung gewöhnen müssten. Eine Frau habe sich beschwert, dass ihr Mann klinge wie ihr Enkelkind und dass das Meer „ganz schrecklich rauscht“. Es dauere im Schnitt zwölf Monate, bis die erste Anpassung des Gerätes abgeschlossen sei, sagt Rehabilitationspädagogin Scholz. Dann kämen auch Hörerinnerungen wieder und vieles klinge wie gewohnt. Trotzdem seien die Patienten dann nicht entlassen. Sie blieben in der Nachbetreuung, „wenn sie Batterien oder Ersatzteile brauchen“ oder auch Versorgungsfragen hätten.

Einige fürchteten um ihren Behindertenstatus, wenn sie sich operieren ließen, sagt Scholz. Eine unbegründete Sorge, sagt Battmer. Das CI kann nicht heilen. „Wenn ich das Gerät abschalte, bin ich wieder taub.“

Nicola Klusemann

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