
© dpa
Prozess gegen Eltern aus Neu Fahrland: Schwere Vorwürfe gegen mutmaßliche Kinderquäler
Im Prozess gegen Pflegeeltern aus Neu Fahrland haben weiter Zeugen das Ehepaar schwer belastet. Auch bei den Jugendämtern hatte die Familie als auffällig gegolten.
Stand:
Den Sommerurlaub auf einem Zeltplatz am Strand von Korsika hat Christine M. (*Namen geändert) in traumatischer Erinnerung. Fünf Jahre ist er her. Am Potsdamer Amtsgericht schilderte die 47-jährige Ergotherapeutin am gestrigen Dienstag, dass die etwa rund zehn Meter entfernt campierenden Zeltnachbarn auch ein kleines Kind dabei hatten – und dieses ständig misshandelt worden sei und gewimmert habe. „Das ging durch Mark und Bein, manchmal war es nicht mehr zu ertragen“, erzählte die Berlinerin, manchmal zitterte ihre Stimme dabei, sie weinte fast. Geschlagen habe eine korpulente Frau, sagte Christine M. – die Angeklagte Heidi H.
Mit der Aussage von M. endete der zweite Verhandlungstag um schwere Vorwürfe gegen ein Ehepaar aus Neu Fahrland, das laut Anklage ab 1999 rund fünf Jahre lang drei anvertraute Pflegekinder misshandelt haben soll – und 2008 auch noch eines der kleinen Kinder der früheren Pflegetochter Anne S., die immer noch bei der Familie wohnt (PNN berichteten). Während des achtstündigen Prozesstages belasteten weitere Zeugen vor allem die Pflegemutter. So sagte der einstige Pflegesohn Markus P., bis zu seinem überstürzten Auszug in eine Kindernoteinrichtung im Alter von 16 Jahren habe die Mutter ihm – manchmal mehrfach pro Woche – etwa mit einem Holzbesen und einmal auch mit einer Pfanne auf den Kopf geschlagen. Eine einmal erlittene Platzwunde am Kopf sei ohne ärztliche Behandlung zugekrustet. Der heute 24-jährige P. schilderte – wie das andere Pflegekind, Nora S., beim ersten Verhandlungstag vor einer Woche –, dass die Pflegemutter die Kinder auch gezwungen habe, bis zum Erbrechen zu essen. Als er beim Rauchen erwischt wurde, habe sein Pflegevater ihm ein brennendes Feuerzeug an die Genitalien gehalten, bis es weh tat, so P. weiter.
Dagegen hatte Nora S. geschildert, ihr Pflegebruder P. habe zur Strafe für eine Kokelei in seinem Zimmer von der Mutter ein brennendes Feuerzeug an die Genitalien gehalten bekommen, während der Vater ihn festhielt. P. konnte diesen Widerspruch auf Nachfrage der Verteidiger nicht erklären: „Ich habe das alles lange Zeit verdängt.“ Derzeit holt P. in Niemegk seinen Abschluss der zehnten Klasse nach, wird bei Behördengängen und Geldgeschäften amtlich betreut. Nachdem er das Haus der Pflegefamilie in Neu Fahrland verlassen hatte, kam er nie zurück.
Dagegen wohnt Anne S. noch dort – die einstige Pflegetochter, deren 2010 bei der Polizei gestellte Strafanzeige die Ermittlungen gegen das Ehepaar erst ausgelöst hatten. Am ersten Verhandlungstag hatte die heute 27-Jährige ihre Vorwürfe allerdings widerrufen. Sie habe sich die Geschehnisse auf der Grundlage von Fernsehkrimis ausgedacht, um die Pflegeeltern zu verletzten, so die junge Frau, die an einer attestierten Persönlichkeitsstörung leidet. Die vier Kinder von Anne S. sind inzwischen in einem Heim untergebracht. Als Campingnachbarin Christine M. schilderte, wie S.’ damals dreijähriger Sohn Justin im Urlaub von Pflegemutter H. misshandelt und häufig in den Campingwagen gesperrt worden sei, schüttelte Anne S. ihren Kopf. Vor einer Woche hatte sie gesagt, ihr Sohn habe zwar viel geschrien, sei aber immer zufrieden gewesen.
Wie solche Aussagen zustandekommen können, versuchte im Gericht der Berliner Psychologe Peter Waschke zu erklären, der die Situation in der Familie auf Antrag des Potsdamer Jugendamts 2011 – nach Bekanntwerden der Vorwürfe – untersuchte. Er sagte, Anne S. werde in der Familie weiter wie ein Kind behandelt, sei unselbstständig. Nach Aufenthalten – etwa im Frauenhaus – sei sie immer wieder zurückgekommen: Allerdings sei dafür wohl die Entschuldigung und der Widerruf der erhobenen Vorwürfe nötig gewesen. Wegen der einfachen geistigen Strukturiertheit von Anne S. halte er es für unwahrscheinlich, dass sie überhaupt in der Lage sei, eine konsistente Geschichte auszudenken, die sie der Polizei schilderte. Der Psychologe betonte auch, ihm gegenüber hätte die Pflegemutter eingeräumt, dass sie Anne S. bei Lügen an den Haaren gezogen habe. Auch der Pflegevater hätte gesagt, er habe die schulischen Leistungen mit leichten Schlägen auf den Po verbessern wollen. Solche Vorfälle seien von den Angeklagten bagatellisiert worden. Heidi H. habe laut dem Gutachter betont, die Kinder hätten ihre Liebe nicht honoriert. Bei aus Alkoholikerfamilien stammenden, bereits traumatisierten Kindern sei aber eine Grundakzeptanz nötig, auch für schwierige Verhaltensweisen – so haben die Verteidiger der Angeklagten im Verfahren mehrfach betont, die Pflegekinder hätten etwa in Ecken des Hauses der Familie uriniert. Gutachter Waschke sagte, es sei kein Vertrauensverhältnis zu den Kindern entstanden – diese hätten immer weniger erzählt, durch Lügen habe sich aber wohl die Gewalt in der Familie gesteigert. Hilfe von außen werde abgeblockt, besonders von Pflegemutter H.
Eine frühere Mitarbeiterin des bis 2003 zuständigen Jugendamts des Landkreises Potsdam-Mittelmark bestätigte, das Ehepaar habe mit den Behörden kaum kooperiert. Bei angekündigten Kontrollen vor Ort hätten die Kinder wie Marionetten gewirkt. „Irgendetwas stimmte nicht.“ Ähnlich schilderte es eine Angestellte des Potsdamer Jugendamts, die für Pflegesohn Markus P. zuständig war – die Kinder hätten überbetont, wie gut es ihnen gehe. P. habe ihr nach seiner Flucht 2004 gesagt, er sei in Neu Fahrland wie in einem Gefängnis gehalten und geschlagen worden. Die Polizei verständigte die Frau damals aber nicht. P. sagte, bei Behördenkontrollen seien die Kinder unter Druck gesetzt worden, „auf heile Welt zu machen“.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: