Von Leonie Wagner: Sechs-Mädel-Haus
Wohnprojekt am Stinthorn ist Familienersatz für heranwachsende junge Frauen
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Am Esstisch der „Großfamilie“ sind normalerweise sechs Mädchen und ihre „Eltern“ versammelt. Bis auf die älteste „Tochter“ Laura, die später dazukommt, sind schon alle da. Die Mädchen kommen aus unterschiedlichen sozialen Gefügen. Trotzdem gibt es in dem Internat in der Villa Stinthorn in Neu Fahrland Probleme wie in anderen Familien auch: Streit unter den Geschwistern, Diskussionen mit den Eltern.
Die sechs Mädchen sind zwischen 14 und 17 Jahre alt und wohnen im Heim – wobei WG oder Patchworkfamilie treffender wäre. Seit 2006 leben sie mit ihren „Eltern“ Rosi Braun-Sauerstein und deren Lebensgefährten in Neu Fahrland. Neu in der Wohngemeinschaft ist Hund Jerry. Die jungen Bewohner des Mädchenprojekts haben eine sehr bewegte Vergangenheit. Sie haben kaum oder gar keinen Kontakt zur ihrer Ursprungsfamilie. Einige haben bereits andere Heim- oder Krisenwohnungsaufenthalte hinter sich. Sie kamen mit Erziehungs-, Schulproblemen und Ziellosigkeit in die Villa am Stinthorn. Hier leben sie in Familienstrukturen, erfahren Sicherheit, Geborgenheit. Es gibt eine strenge Hausordnung. Die regelt zum Beispiel, wer wann zu Hause sein muss. Viel Zeit für Hobbys bleibt da nicht. Aber zwei der Mädchen wollen demnächst mit Rugby anfangen.
Laura, Mercedes, Karolina, Cindy, Jaqueline und Alyssa haben ein gemeinsames Ziel: nämlich ein guter Schulabschluss. Einrichtungsleiterin Braun-Sauerstein sagt, dass sie sehr eng mit den Direktoren der Potsdamer Schulen zusammenarbeitet, um ihre Mädels voranzubringen. Die Grundfesten des Erziehungsmodells in der Villa sind Persönlichkeitsbildung. Ordnung, Sauberkeit und Fleiß. Die Bewohnerinnen bekämen Zuneigung und Schutz, trügen aber auch ihren Teil zum Familienleben bei, erklärt die WG-Mutter. Die Mädchen sehen sich als Schwestern. Sie gehen gern gemeinsam ins Kino oder auf Partys. „Hier ist nie jemand allein, es ist immer jemand da, der auf dich aufpasst“, meint Cindy. Selbstverständlich gibt es auch Streit. „Die Mädels müssen mich schon mal mit gestresster Laune erleben und umgekehrt“, sagt Rosi Braun-Sauerstein. Wie in jeder Familie gibt es auch Spannungen zwischen den Geschwistern: „Eifersucht natürlich gibts die bei uns, aber nicht zu knapp“, erzählt Karolina.
Die große Villa Stinthorn ist kein „Hotel Mama“, Aufgaben in Garten und Haus werden auf alle Bewohner verteilt. Meistens teilen sich zwei Mädchen ein Zimmer. Die sind individuell eingerichtet; die Mädels durften selbst entscheiden welche Farbe die Wände haben und welche Möbel gekauft werden sollen.
„Die Mädchen sollen lernen, die Dinge wertzuschätzen. Größtenteils gehören die Möbel im Haus mir und ich erwarte, dass damit angemessen umgegangen wird“, so Rosi Braun-Sauerstein. Nicht jede kann ihre Pflegetochter werden. Vor Aufnahme muss sich das neue Mitglied in einer zweiwöchigen Probezeit bewähren und sich in das Gemeinschaftsleben einfinden. Kaum zu glauben, dass sich jemand nicht in der Villa zurechtfindet. Die Leiterin bestreitet mit Liebe, Humor, aber auch Strenge den Alltag mit ihren sechs Ziehtöchtern.
Rosi Braun-Sauerstein leistet Beträchtliches: Sie stellt dem Projekt nicht nur einen Großteil ihres Privatvermögens zur Verfügung und erzieht sechs heranwachsende junge Frauen, sondern ist außerdem noch Dozentin für Kunst und kulturelle Erziehung. Bleibt da noch Zeit fürs Alleinsein? Die Mädchen hätten eine gute Portion Rücksicht in sich, sagt die Internatsträgerin: wenn die jungen Bewohnerinnen merkten, dass sie ihre Ruhe braucht, dann ließen sie sie auch mal in Frieden. Den einzigen Tag in der Woche jedoch, den Rosi Braun-Sauerstein für sich beansprucht ist der Sonntag. Der ist ihr heilig. Manchmal fährt sie an solchen Tagen nach Bayern, um ihre eigene Familie zu besuchen. Aber auch auf diese Reise nimmt sie meistens eines ihrer Mädchen mit. Sie kann es halt nicht lassen.
Leonie Wagner
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