
© Manfred Thomas
Landeshauptstadt: Sehnsucht nach Frieden
Zeitzeugin Gisela Bohl erinnerte zum Volkstrauertag an das Leiden in den Weltkriegen
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Es ist die Sehnsucht dieser Tage, die Bitte vieler Menschen in Europa. Es ist ihr Wunsch nach Frieden, auch an der eigenen Seele, nach all den schrecklichen Bildern des Terrors: „Heil’ge Nacht, o gieße du Himmelsfrieden in dies Herz Hell schon erglühn die Sterne, grüßen aus blauer Ferne: Möchte zu euch so gerne fliehn himmelwärts.“ In seiner „Hymne an die Nacht“ hat Ludwig van Beethoven diese Worte vertont. Auf der Feierstunde zum Volkstrauertag in Potsdam am gestrigen Sonntag, an der neben Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) auch Landtagspräsidentin Britta Stark (SPD) teilnahm, brachte das Hornquartett der Städtischen Musikschule Potsdam eine Instrumentalfassung dieser Komposition zu Gehör.
Jakobs erinnerte in seiner ganz unter dem Eindruck der Anschläge von Paris gehaltenen Rede zum Volkstrauertag an das unsägliche Leid der Menschen in den beiden Weltkriegen. „Der Volkstrauertag war nach dem Ersten Weltkrieg vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge angeregt worden, um der Millionen Toten auf den Schlachtfeldern fern von der Heimat einen Tag des Gedenkens zu geben. Fast jede Familie hatte damals einen Toten zu beklagen“, sagte Jakobs auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof am Bassinplatz.
Einer jener Menschen, die vor nunmehr 100 Jahren „für Volk und Vaterland“ – wie es damals hieß – in den Krieg zogen und als Krüppel zurückkamen, war der Vater von Gisela Bohl. In der Schlacht um Verdun erlitt er eine schwere Kriegsverletzung, wie seine Tochter in ihrer Rede auf der Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag in der Großen Trauerhalle auf dem Neuen Friedhof berichtete. Einen Querdurchschuss durch beide Oberschenkel habe er erleiden müssen – eine Verletzung, von der sich ihr Vater nie mehr erholt habe. Im Jahre 1939 starb er an den Folgen dieser Kriegsverletzung. „Sein Verlust hat mich sehr schwer getroffen – und bereits sechs Wochen später brach der Zweite Weltkrieg aus“, berichtete Bohl, die als Zeitzeugin und Hauptrednerin auf der Veranstaltung zum Volkstrauertag sprach. Als ihr Vater starb, war Bohl erst zehn Jahre alt. Und Deutschland war hochgerüstet, plante gerade den nächsten Krieg. Einen Angriffskrieg, der am Ende noch mehr Opfer fordern sollte, als jene Schlachten des Ersten Weltkriegs, die noch nicht einmal eine Generation zurücklagen.
Große Teile der Bevölkerung hätten 1939 gejubelt, als der Krieg ausbrach, sagte die heute 86-jährige Bohl in ihrer Rede – und fragte sogleich: „Wie konnte so etwas möglich sein?“ Ihre Antwort: Goebbels habe die Deutschen mit seiner Propaganda für den Krieg begeistert. Ein komplettes Ministerium nur für den Krieg im Kopf – das sei sehr wirkungsvoll gewesen. Ständige Hurrameldungen seien damals öffentlich verkündet worden.
Als die militärischen Erfolge auch in der Logik des Regimes etwas zweifelhafter wurden, traf man im Deutschen Reich erste Vorkehrungen gegen Angriffe aus der Luft. „Eine der ersten Maßnahmen für die Zivilbevölkerung war die Verdunkelungspflicht“, erinnert sich Bohl. Mit ihrer Familie wohnte die damals noch Minderjährige in einer Dreizimmerwohnung in der Nähe des Potsdamer Luftschiffhafens. Und als die Propagandamaschinerie der Nazis noch auf Hochtouren lief, als die Wehrmacht scheinbar von Erfolg zu Erfolg rannte, da trafen mehr und mehr Briefe mit Todesnachrichten ein: „Gefallen für Führer, Volk und Vaterland.“ So habe es damals geheißen, sagte Bohl. Und in den deutschen Kinos, erinnerte sich die 86-Jährige in ihrer Rede, da lief die Wochenschau vor den Spielfilmen und berichtete, „wie das deutsche Heer von Sieg zu Sieg schritt“. In Wahrheit zeichnete sich die militärische Niederlage des Reiches immer stärker ab.
Schon lange bevor Potsdam im Krieg selbst zum Angriffsziel der Alliierten wurde, hätten die Einwohner der Residenzstadt unter den Luftangriffen gelitten. Ziel vieler Bomber war die Reichshauptstadt Berlin. „Da sie den Raum Potsdam überflogen, mussten wir auch immer in den Luftschutzkeller gehen“, erinnert sich die spätere Lehrerin Bohl. Die Kriegsbegeisterung der Bevölkerung hatte da natürlich schon nachgelassen. Aber die Angst sei groß gewesen, sich gegen die offiziellen Jubelmeldungen der Nazipropaganda zu stellen, erklärte Bohl.
Die Flüchtlingswelle der Menschen aus den deutschen Ostgebieten erreichte schließlich auch Potsdam. Im Regattahaus am Luftschiffhafen, einst ein bekanntes Restaurant, wurden nun Flüchtlinge untergebracht. Bohl, die 1945 gerade einmal 16 Jahre alt war, half bei der Versorgung der Flüchtlinge mit. Das Kriegsende hat sie nicht in guter Erinnerung: „Natürlich freuten wir uns, aber zum Jubeln war keiner bereit.“ Die erste Zeit nach dem Krieg, das Leben in einer zerstörten Stadt, ständig auf der Suche nach Nahrung – diese Monate habe sie in besonders schlechter Erinnerung behalten. „Man wusste einfach nicht, wie es weitergeht.“
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