Landeshauptstadt: Seit 30 Stunden auf den Beinen
Der Berliner Mauerlauf machte in diesem Jahr erstmals an der Gedenkstätte am Griebnitzsee Station. Schnellste Läuferin bei dem 160-Kilometer-Ultralauf wurde die Potsdamerin Annett Bahlcke
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So viele Besucher hat die Mauer-Gedenkstätte am Griebnitzsee selten: 250 Läufer aus 17 Ländern passierten am Samstag den „Versorgungspunkt 17“ nahe dem Seeufer, wo sechs verbliebene Blöcke der Berliner Mauer an die deutsche Teilung erinnern. Es ist das erste Mal, dass die Strecke des seit 2011 stattfindenden Mauerweglaufs auch die Gedenkstätte in Potsdam einschließt. Der Veranstalter, der Berliner LG Mauerlauf e.V., hatte dafür extra den Streckenverlauf geändert.
Das Pensum, das die Teilnehmer zu bewältigen hatten, lässt selbst Leistungssportler schlucken: 160,9 Kilometer – umgerechnet 100 Meilen – ist der Mauerweg lang, maximal 30 Stunden haben die Läufer Zeit, den ehemaligen Grenzverlauf einmal zu umrunden.
„Ich bin heute um sechs Uhr morgens in Kreuzberg losgelaufen, jetzt habe ich etwa 100 Kilometer“, sagt Daniel Evans aus Newcastle nach einem Blick auf den digitalen Kilometerzähler an seinem Handgelenk. Der Engländer lässt sich für ein paar Minuten erschöpft in einen der Plastikstühle sinken, direkt um den Leib zwei Trinkflaschen geschnallt, in einem Band ums Armgelenk ein Bündel zerknickter Schokoriegel. Dass er an dem Lauf teilnimmt, war eher Zufall, sagt der 34-jährige Extremsportler: „Ich wollte unbedingt nach Berlin und hier meine 100 Meilen laufen.“ Vor Ort hatte Evans von dem Mauerlauf erfahren und spontan teilgenommen.
Unablässig kommen weitere Sportler den kleinen Sandweg zur Gedenkstätte herab und halten ihren Transponder-Chip am Handgelenk an die Empfängerstation, die automatisch deren Position weitergibt. Bei jedem Neuankömmling applaudiert das rund zehnköpfige Team aus Mitgliedern des Forum-Vereins zur kritischen Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte im Land Brandenburg und der Initiative „Griebnitzsee für alle“ e.V., die gemeinsam einen der insgesamt 27 Versorgungspunkte auf der Strecke betreiben; in Potsdam konnten die Mauerläufer auch am Schloss Sacrow, dem Meierei-Brauhaus und der Revierförsterei Krampnitz Station machen. „Dieser Anlass des Mauerbau-Gedenkens vor 52 Jahren zieht Läufer aus der ganzen Welt an“, freut sich Manfred Kruczek vom Forum-Verein: „Die Sportler setzen damit ein Zeichen gegen das Vergessen.“
Ein Vergessen, das Kruczek auch der Stadt Potsdam vorwirft: „Auf dem Internetauftritt der Stadtverwaltung, wo die Gedenkstätten der Stadt aufgelistet werden, wird Griebnitzsee nicht erwähnt – obwohl es die einzige Mauergedenkstätte Potsdams ist!“ Der Forum-Verein bemüht sich seit Jahren um die Pflege der Gedenkstätte, die 2009 offiziell von der Stadt Potsdam als solche anerkannt wurde.
Viele Ältere waren am Samstag unter den sogenannten Ultra-Läufern – Sportler, die längere Strecken als Marathons laufen. Zum Beispiel der 63-jährige Hajo Palm aus Berlin: „Für mich als Berliner war es klar, hier mitzumachen“, sagt er über seine Motivation. Am Griebnitzsee gönnt er sich nur hastig ein belegtes Brot: „Hab ich Stulle, hab ich Power!“ Die Versorgungsstation hat auch Malzbier, Reiswaffeln, Nüsse, Orangen, Zitronen, Bananen, Süßigkeiten, Kuchen, Salzstangen und natürlich Unmengen von Getränken im Angebot. Über einem Bottich konnten sich die Läufer becherweise Wasser über den Kopf schütten.
„Die ersten 80 Kilometer sind die leichtesten“, sagt Carmen Hamm aus Stuttgart gut gelaunt über ihre bisherige Strecke. Zur Vorbereitung war die 46-Jährige am Vortag bereits 30 Kilometer durch Berlin gelaufen. „Ich wollte den Lauf mitmachen, weil der Mauerweg unglaublich schön sein soll“, sagt sie: „Und er ist auch sehr schön! Schöner wär nur, wenn die Beine nicht so schwer wären.“ Während Hamm noch fit wirkt, haben andere zu kämpfen: Einer der Läufer habe am Versorgungspunkt in Griebnitzsee schon aufgegeben, sagt Manfred Kruczek.
Manche der Sportler nehmen sich noch kurz die Zeit, die drei orangen Stelen für die Maueropfer Peter Böhme, Jörgen Schmidtchen und Willi Marzahn zu studieren, bevor sie weiterspurten. „Geht's hier weiter?“, fragt einer der Läufer und zeigt auf den Uferweg, der von hier aus noch etwa 300 Meter begehbar ist. „Schön wär's!“, antwortet Kruczek. „Das geht erst nächstes Jahr!“, fügt Walter Raffauf von „Griebnitzsee für alle“ optimistisch hinzu – ein Fingerzeig auf die Bemühungen der Stadt, den von Anwohnern gesperrten Uferweg wieder begehbar zu machen. „Früher sind hier viele Touristen langgegangen“, klagt Kruczek. Heute komme wegen der Absperrungen kaum noch jemand an dem Mauerstück vorbei. „Die Wiederherstellung des Uferweges soll den ehemaligen Postenweg der Mauergrenzer wieder zugänglich machen“, sagt Raffauf.
Mittlerweile ist es Abend, rund 90 Läufer sind schon durchgekommen. So mancher Zuschauer fragt sich, wie die Sportler diese Tortur eigentlich überstehen. „Indem ich einen Fuß vor den anderen setze“, scherzt Daniel Evans, fügt aber hinzu: „Morgen muss ich einen kompletten Tag lang schlafen.“
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