Kolumne PYAnissimo: So weit, so nah
Marie schreibt: „Nun hat sich unser Schicksal erfüllt. Nach tagelangen Beschwerden sind wir hier gelandet, westlich vom Harz in einem kleinen Bauerndorfe.
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Marie schreibt: „Nun hat sich unser Schicksal erfüllt. Nach tagelangen Beschwerden sind wir hier gelandet, westlich vom Harz in einem kleinen Bauerndorfe. Wir besitzen unsere paar Koffer, die wir tragen konnten und sonst nichts. Alles in unserem Raum ist mehr wie primitiv. Wo Käthe mit ihren Kindern ist, wissen wir nicht. Am 4. Mai wurde sie abgeschoben. Nun ist unsere letzte Hoffnung Zerbst. Vielleicht dürfen wir dahin.“ Die Schreiberin ist Marie, meine Urgroßmutter, am 9. Juni 1946 in Ammensen. Das Dorf gibt es heute nicht mehr. Aber damals waren sie – ich weiß gar nicht genau, wer alles dazuzählte – dort gelandet. Mit nur diesen Koffern. Die Heimat Schlesien zerrieben und kaputt. Und Käthes Mann liegt damals schon seit fast vier Jahren irgendwo unter russischer Erde. Maries Tagebuch berührt mich immer wieder. Die handgeschriebenen Seiten hat meine Großmutter eines Tages abgetippt, bevor sie niemand mehr lesen konnte. Und jetzt scheint selbst die Schreibmaschinenschrift antiquiert.
Die Bilder im Fernsehen bedrücken auch. Mittelmeer, Budapest, München, so weit, so nah. Marie schreibt am 23. Januar 1945: „Gestern kam unversehens Inge R. als Flüchtling hier an. Es spielen sich herzzerreißende Szenen auf den Landstraßen und in den Zügen ab. Daß man mal solchen Jammer miterleben muss. Ach, solch ein Leiden überall. Daß der Krieg so nahe an uns rücken würde ...“ Bald werden sie neben Inge R. auch „einen älteren Herrn beherbergen“. Und irgendwann selbst obdachlos sein.
Frau Merkel sagt, wir müssen umdenken, flexibler werden. Aber was bedeutet das genau? In Potsdam treffe ich einen Bekannten, der sich um einen Flüchtling kümmert. Er hat dem Jugendlichen eine Lehrstelle als Restaurantfachmann besorgt. Und macht dem jungen Mann mit einem vernarbten Körper und einer vernarbten Seele, jemand, der vom Leben nichts mehr erwartet, Mut. Damit er keine Angst mehr hat, wenn ihn jemand anspricht und vielleicht ein Wasser bei ihm bestellt.
Auf dem Theaterschiff wird zurzeit für ein Stück geprobt. Die Hitze ist unangenehm, als ich vorbeischaue, und dort, im einstigen Frachtraum des Kahns, ist es noch stickiger als draußen. Regisseur Rosa von Praunheim steht schwitzend im staubig-düsteren Schiffsbauch und empfängt. Seine heiter-gelöste, liebevolle Miene lässt sofort Nähe zu. Als ich über die Hitze klage, wird sein Gesicht ernst. „Heiß? Ach was. Es gibt Schlimmeres.“ In dem Moment schäme ich mich.
Unsere Autorin ist freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Babelsberg
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