Landeshauptstadt: Solidarität in Fraktur-Schrift
Die Volkssolidarität Potsdam stellt zu Beginn ihrer Spendensammlung Plakate des Künstlers Werner Nerlich aus
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„Denkst du auch an alle?“ steht groß in Fraktur-Schrift auf dem Plakat mit der Überschrift „Weihnachten 1946“. Es ist eines von etlichen Plakaten und Aufrufen, die der Potsdamer Künstler und Ehrenbürger Werner Nerlich nach dem Krieg für die gerade erst gegründete Volkssolidarität gestaltet hatte – in einer Zeit, als staatliche Sozialstrukturen weitgehend zusammengebrochen waren.
Anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Volkssolidarität und des 100. Geburtstages des 1999 verstorbenen Nerlich zeigt die Volkssolidarität Potsdam in ihrer Begegnungsstätte in der Zeppelinstraße 163 eine Auswahl dieser Plakate. Die Ausstellung eröffnet damit pünktlich zum Start der jährlichen Spendensammlung der Volkssolidarität vom 9. März bis zum 30. April. Auch das Potsdam Museum wird Nerlich ab Mai eine Ausstellung widmen.
Nach dem Ende des Krieges benötigten Tausende Menschen dringend Hilfe: „Kinder hatten nichts zu essen, Stuben waren kalt, es kamen etliche Flüchtlinge und Verwundete aus dem Krieg“, erinnert die Vorsitzende des Potsdamer Stadtverbandes der Volkssolidarität, Gabriele Herzel, an die Zustände, die 1945 zur Gründung der Volkssolidarität in Dresden führten.
Der in Nowawes geborene Nerlich, zu dessen bekanntesten Arbeiten das Metall-Relief an der Schwimmhalle am Brauhausberg sowie das Wandbild im Alten Rathaus zählen, hatte sich direkt nach der Rückkehr aus dem Krieg in den Dienst des Sozialverbandes gestellt. „Er war selbst vom Solidaritätsgedanken durchdrungen“, sagt der Potsdamer Grafiker und Nerlich-Schüler Siegfried Lachmann, der auch die sieben Plakate für die aktuelle Ausstellung aus Nerlichs Nachlass ausgewählt hat. Eines davon spiegelt die damalige Wiederaufbau-Stimmung wider: „Alle Hände helfen mit“ steht über einer Darstellung von Händen, die Werkzeuge aus angedeuteten Hausruinen recken.
Lachmann war 1953 mit 18 Jahren in die Potsdamer Fachschule für Angewandte Kunst gekommen, in der Nerlich Direktor war. „Es war ein schwerer Anfang: Das Gebäude war eine Ruine und die ersten Studenten mussten erst mal die Räume in Ordnung bringen“, erinnert sich Lachmann, der vom hohen Niveau der Schule beeindruckt war: „Als ich zur Aufnahmeprüfung kam, wollte ich gleich wieder umdrehen – ich dachte, da habe ich keine Chance.“ Nerlich habe sich jedoch um seine Studenten gekümmert, betont Lachmann: „Durch seine Unterstützung habe ich mein Studium geschafft.“
Die Plakate zeigen, dass sich die Volkssolidarität, die heute vor allem in der Altenhilfe tätig ist, damals besonders um Kinder kümmerte: „Unschuldig sind die Kinder an aller unser Not, wir schaffen ihnen Ferien, Erholung, Freude, Brot!“, heißt es da etwa. Lachmann lobt unter anderem die Schriftgestaltung: „Nerlich war ein perfekter Schriftkünstler.“
Die Ausstellung trägt den Titel „Traditionsbewusst und zeitgemäß“, denn: „Die Appelle, die Werner Nerlich grafisch gestaltete, sind leider noch immer aktuell“, sagt Herzel. Für die Volkssolidarität sei es selbstverständlich, die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, mit offenen Armen zu empfangen. Die aktuelle Spendensammlung soll unter anderem für deren Unterstützung verwendet werden.
Auch vor 70 Jahren gab es Ressentiments gegen Flüchtlinge, erinnert sich Lachmann: „Flüchtlingskolonnen kamen damals nach Deutschland und wurden von den Kommunen hin- und hergeschoben. Man hat sie als Habenichtse beschimpft und geschnitten.“ Nach der Nerlich-Ausstellung werden in der Begegnungsstätte ab Mai selbstgemalte Bilder von Flüchtlingskindern aus dem Haeckel-Kiez zu sehen sein. Erik Wenk
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