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Landeshauptstadt: Starke Sterntaler

Wie Kinder der Grundschule „Am Pappelhain“ lernen, sich selbst und andere besser zu verstehen

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Mein Tag ist blau, weil der Montag immer blau ist, sagt Nastasja und wirft das Redesäckchen, ein Beutel mit Muscheln und Glöckchen, ihrer Mitschülerin zu. In ihr hat sich ein Grau breit gemacht, wie die Finsterwolken vor dem Fenster. Rabenschwarz dagegen ist der Tag für die zwölfjährige Kimberly. Die Mathearbeit, die sie gerade geschrieben hat, scheint nicht so gut gelaufen zu sein. Hier im Sterntaler-Training kann sie ihrem Ärger ordentlich Luft machen. Die Kinder sitzen am Boden im Kreis und tun etwas, wozu im normalen Schulalltag kaum Raum bleibt: Sie reden darüber, wie sie sich fühlen. Auch die beiden Erwachsenen in der Runde bekommen den Redesack zugespielt und geben ihrem Tag eine Farbe: Gelb für die Aufregung, Grün für das Aufatmen der Pflanzen im Regen.

Seit über einem Jahr kommen der Pädagoge Achim Wannicke und Jutta Möhring von der in Berlin und Potsdam ansässigen Kinderakademie Sterntaler in die Grundschule „Am Pappelhain“. Nach einer erkundenden Eingangsphase unterstützt das Gesundheitsamt der Stadt nun für weitere drei Jahre ein Modellprojekt, das Schülern, Eltern und Lehrern über längere Zeit helfen soll, Sinne und Verstand, Denken und Fühlen wieder fester miteinander zu verknüpfen.

Irgendwann ist der verbindende Faden zerrissen, nicht nur an dieser Schule im Wohngebiet Am Stern. Wie überall müssen die Lehrer ihren Lehrstoff schaffen, die Kinder ihren Notendurchschnitt, die Eltern ihren Job. Da bleiben Zuwendung und einfühlende Gespräche oftmals auf der Strecke. Stress, Hektik und ungelöste Probleme aber machen krank. Nicht nur die Erwachsenen. Immer mehr Kinder „fressen“ ihren Kummer in sich hinein. Übermäßiger Leistungsdruck krümmt ihre Schultern, heruntergeschluckter Ärger grummelt im Bauch. Die Folgen solcher Dysbalancen können sich in Übergewicht äußern, in Süchten, in Gewalt gegen andere oder sich selbst.

Wannickes Sterntaler-Programm versucht, dem frühzeitig entgegenzuwirken. Die Kinder sollen zunächst ihren eigenen Körper besser wahrnehmen, Empfindungen genauer beschreiben, Gefühle erkennen. Scheinbar ziellos schicken die beiden Trainer die Mädchen und Jungen durch den Raum. Sich selbst fortbewegend, sollen sie zwei Bälle jonglieren und zugleich darauf achten, niemand anderen zu berühren. Trommeln, die sie begleiten, signalisieren ein abruptes Ende. Alle verharren auf der Stelle, manche in schrägen Positionen, wackelig auf einem Bein. Jetzt heißt es aushalten, die Muskelspannung spüren und wieder locker lassen. Wer sich seiner selbst sicher ist, kann Kontakt zum anderen aufnehmen.

Später bilden die Mädchen mit ineinandergehakten Armen eine „Römerreihe“, die die Jungen mit Faustschlägen und Fußtritten attackieren dürfen, ohne aber auch nur eines der Mädchen zu berühren oder gar zu schlagen. Körpergefühl, Abstand und Nähe, Selbstschutz und Zusammenhalt – das sind die Themen dieser Übungsstunde, die niemand ausgesprochen hat, und die doch jeder im Raum erspüren kann. Der Anfang eines Trainings, in dem die Kinder innere Stärke, Selbstvertrauen, aber auch Einfühlungsvermögen und Teamgeist entwickeln können – emotionale Kompetenzen, die ihnen helfen, mit steigenden Anforderungen und Problemen in Schule, Freizeit und Familie besser fertig zu werden.

Potsdams Amtsärztin Karola Kaiser hat selbst an einer dieser Stunden teilgenommen und war berührt von der Behutsamkeit der Pädagogen. Als Medizinerin hofft sie, dass das Sterntaler-Training Wirkung zeigt, bevor es zu auffälligem Verhalten und psychisch bedingten Erkrankungen kommt. Wichtig ist ihr, dass Lehrer und Eltern an einem Strang ziehen, sich auf die ungewöhnlichen Lernformen einlassen, sie verstehen und vielleicht selbst mitmachen.

Achim Wannicke, der mit seiner Kinderakademie seit 1991 in Berlin schon viele Kurse geleitet hat, hält nichts von kurzlebigen Projekten, die, nachdem sie wie ein durchziehendes Gewitter einigen Staub aufgewirbelt haben, die Schule ohne anhaltende Veränderung zurücklassen. Er will keiner dieser „Durchlauferhitzer“ sein. Er will Tiefe und Nachhaltigkeit. In der Schule „Am Pappelhain“ stehen dafür die Chancen gut. Neben einem Kurs in der 5. Klasse können er und seine Mitarbeiter die Schüler einer 2. Klasse über drei Jahre kontinuierlich bis ins 4. Schuljahr begleiten. Lehrer und Eltern haben ein ernsthaftes Interesse an ihrer Arbeit, an den alternativen Lernmethoden, den Erfahrungen. Sie nutzten Weiterbildungen und Informationsabende der Akademie, probieren selbst aus, was die Kinder trainiert haben. Schulleiter Gerald Schneider ist gespannt darauf zu sehen, wie sich die Projektklasse im Vergleich zu den beiden Parallelklassen entwickelt. Positives soll in den Alltag der Schule einfließen, die mit ihrem Ganztagskonzept künftig noch stärker Lern- und Lebensraum der Kinder am Stern sein will ...

Am Ende der Trainingsstunde der Fünftklässler ist es still geworden. Die Kinder sitzen wieder im Kreis. Vor ihren Nasenspitzen berühren sich die Kuppen ihrer kleinen Finger. Dann schließen sie die Augen und die Finger wandern durch die Luft zum Nebenmann. Intuition kommt ins Spiel. Ohne zu blinzeln, treffen die meisten Kinder die Fingerspitzen ihrer Nachbarn. Wo es nicht klappt, wird gelacht. Je jünger sie sind, desto höher ist die Trefferquote, weiß Achim Wannicke. Viel stärker als Erwachsene hören die Kinder auf ihren Bauch, vertrauen der Intuition, einem Kraftquell, der für so viele Lernprozesse abgeschöpft werden kann. Ungenutzt aber würde er irgendwann versiegen. Nastasja, Kimberly und ihre Klassenkameraden lassen das nicht zu. Nun nicht mehr.

Antje Horn-Conrad

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