
© Manfred Thomas
Von Günter Schenke: Stasi-Besetzung war nicht inszeniert
20 Jahre danach: Forum zur Entstehung der Bürgerkomitees / Aufarbeitung statt „Versöhnung“
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Innenstadt - In Potsdam war es anders: Die Besetzung der Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Dezember 1989 in Potsdam war „ganz sicher nicht von der Stasi selbst inszeniert.“ Das stellte Manfred Kruczek auf einem Forum zur Erinnerung an die Gründung der Bürgerkomitees vor zwanzig Jahren in der Gedenkstätte in der Lindenstraße 54/56 klar. Kruczek war einer der 30 Beteiligten bei der Besetzung der Zentrale am 5. Dezember 1989. Zu der Veranstaltung hatten sich am Samstag rund 40 Zeitzeugen zu einer Diskussion versammelt. Eingeladen hatten die Fördergemeinschaft Lindenstraße 54 mit dem „Forum zur kritischen Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte im Land Brandenburg e.V.“
Kruczek erwähnt eine Interview-Aussage des verstorbenen Mitbegründers des Neuen Forums, Rudolf Tschäpe, der eine Stasi-Mitwirkung ebenfalls ausschloss und widerspricht den von Michael Beleites und Martin Gutzeit bekannt gegebenen Forschungsergebnissen, wonach das „Amt für Nationale Sicherheit“ als Stasi-Nachfolge-Organisation seine Auflösung selbst inszeniert habe. Grund für die „Selbstauflösung der Stasi“ sei laut Gutzeit die Absicht gewesen, die Führung der Sozialistischen Einheitspartei (SED) aus der Schusslinie zu nehmen. „Das trifft für Potsdam nicht zu“, argumentierte Kruczek. Von Anfang an hätte das damalige Bürgerkomitee die Privilegien und Verfehlungen der SED- Funktionäre mit im Blickfeld gehabt.
Nur vier Bezirksverwaltungen, außer Potsdam noch Leipzig, Halle und Erfurt, seien neben 84 Kreisverwaltungen besetzt worden, erwähnt Kruczek. Die Zusammensetzung des Potsdamer Bürgerkomitees bestand zur Hälfte aus „Blockparteien“. In anderen Bezirken hätten diese sogar die Mehrheit gehabt und in Cottbus war gar der Beauftragte der Modrow-Regierung Chef des Komitees.
Startschuss für die Besetzungen war ein Aufruf der Bürgerbewegung „Neues Forum“ am 1. Dezember 1989 nach dem Rücktritt des SED-Politbüros. Die Potsdamer Akteure hätten sich am 5. Dezember zunächst in das Dienstzimmer von Oberbürgermeister Manfred Bille begeben, um Maßnahmen zur Stasi-Auflösung einzufordern. Bille habe keine Vorstellungen gehabt, worauf das Neue Forum und hinzugekommene Bürger mit der Besetzung der Bezirkszentrale in der Hegelallee begannen. Die Volkspolizei (VP) habe sich „kooperativ“ gezeigt, indem sie die Ein- und Ausgänge des Stasi-Komplexes kontrollierte. Der Oberbürgermeister und die Stadträte kooperierten hingegen „nur widerwillig“. Bei der Aktensicherung einschließlich Versiegelungen durch Vertreter des Neuen Forums habe die VP „sekundiert“, berichtet Kruczek.
Zeugen aus den anderen Bezirks- und verschiedenen Kreisstädten beschreiben ein unterschiedliches Bild. So berichtet Christian Polster aus Cottbus, dass es hier Anrufe aus der Stasi-Zentrale an drei Bürgerrechtler gegeben habe: „Hier werden Akten vernichtet.“ Ein Zeitzeuge aus Brandenburg an der Havel: „Wir waren blauäugig, wir wussten nichts und wurden an der Nase herumgeführt.“
Die erste besetzte Stasi-Hochburg war am 4. Dezember die Kreiszentrale in Rathenow. Joachim Kegel berichtet, dass die 24 hauptamtlichen Mitarbeiter über 30 Pistolen, drei Maschinenpistolen, 60 000 Schuss Munition, 30 Handgranaten, und zwei Panzerabwehrraketen verfügten. „Gegen den äußeren Feind“, so die Auskunft über den Zweck des Waffenarsenals. In den Rhinower Bergen sei das Bürgerkomitee auf eine Abhöranlage gestoßen, erzählt Kegel. „Da waren Hunderte, wenn nicht Tausende, von Kassettenrekordern zum Abhören übereinander gestapelt; ich habe einfach die Stecker rausgezogen“.
Die Veranstaltung sprach sich statt „Versöhnung“ für eine Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit aus. In Bezug auf die Situation im Landtag bemerkte Helmut Müller, im ersten brandenburgischen Landtag Pressesprecher vom Bündnis 90/Die Grünen: „Das Land muss eine arbeitsfähige Organisation aufbauen, die in der Lage ist, das nachzuholen, was zwanzig Jahre lang versäumt worden ist."
Günter Schenke
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