
© Manfred Thomas
Landeshauptstadt: Statt SMS nur Textsalat
In einer „Schwarzen Stunde“ erfahren Schüler der Neuen Gesamtschule, wie Blinde den Alltag erleben
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Lehrerin Steffi Müller hält ein grünes Blatt mit einem schwarzen „B“ hoch: „Was könnt ihr hier sehen?“, fragt sie ihre Klasse. „Ein Gesicht?“, fragt ein Schüler. Von anderen kommen Kommentare wie: „Oh Gott“ oder „Ich enthalte mich!“ Erst als die Schüler der 8a der Neuen Gesamtschule Babelsberg bis auf einen Meter an das Blatt herangetreten sind, können sie das Rätsel lösen, denn die speziellen Brillen, die sie tragen, reduzieren ihre Sehfähigkeit auf zehn Prozent. Mitgebracht in den Lebensgestaltung-Ethik-Religions-Unterricht hat sie Stephanie Seidel, Leiterin der Blinden- und Sehbehindertenberatungsstelle des Sozialwerks Potsdam e.V. In der „Schwarzen Stunde“ sollen die Schüler erfahren, wie Blinde und Sehbehinderte ihren Alltag bewältigen.
Seidel ist selbst blind, das heißt, sie hat weniger als zwei Prozent Sehfähigkeit, so die medizinische Definition von Blindheit. „Ein wenig sehe ich aber noch“, sagt die 43-jährige Potsdamerin, „hell und dunkel kann ich noch unterscheiden. Ich kann auch wahrnehmen, wenn jemand von euch vor mir stünde, ich könnte nur nicht sagen: Seid ihr eine Säule, eine Pflanze oder ein Mensch?“
Nach der Erfahrung mit den Blindenbrillen können die Jugendlichen das gut nachvollziehen: „Ich hab eine große Unsicherheit gespürt“, meint ein Schüler, man habe nur die Nasen der anderen gesehen. „Ich würde so nicht klarkommen“, ist sich eine Schülerin sicher. Manchen Menschen, die früher sehen konnten, gehe es ähnlich, meint Seidel: „Einige bekommen Depressionen oder fangen an deswegen zu trinken. Aber das Leben ist auch mit Blindheit lebenswert.“
Früher konnte Seidel etwas mehr sehen, Farben etwa oder ihr Spiegelbild. Heute ist sie vor allem auf Gehör, Tast- und Geruchssinn angewiesen. Außerdem stützt sie sich auf ihr Gedächtnis: „Ich kann nur Wege gehen,“ sagt sie, „ die ich geübt habe. Und an Geldautomaten weiß ich genau, welche Tasten ich drücken muss.“
Ein Handy kann Seidel dank Voice-Over-Funktion, die alle Tasten und Menüpunkte angesagt, ebenfalls benutzen. „Versucht doch mal, mit der Brille eine SMS zu schreiben!“ Die Jugendlichen holen ihre Smartphones heraus und tippen. „Ich habe die größte Schrift eingeblendet und kann immer noch nichts sehen!", sagt der 14-jährige Pascal. „Ich wollte meiner Mutter schreiben, dass ich den Schlüssel vergessen habe“, sagt die 13-jährige Kimberley, „aber es ist nur Textsalat rausgekommen."
Über das Gehör nimmt Seidel mehr wahr, als man denkt: „Ich kann Gesichtsaudrücke, zum Beispiel Grinsen, durchaus an der Stimme erkennen.“ Auch ob ein Raum groß oder klein sei, könne sie akustisch erkennen, „aber wenn ich mir ein Zimmer wirklich vorstellen will, müsste ich alles einmal abtasten.“ Der Tastsinn hilft Seidel auch beim Bezahlen an der Ladenkasse: „Wer gibt mir mal etwas Geld?“, fragt sie in die Runde. Ein Schüler reicht ihr eine Münze. „20 Cent“, sagt Seidel nach kurzem Abtasten und macht auf die unterschiedlichen Rillen und Kerben am Rand der Geldstücke aufmerksam. Auch Geldscheine kann Seidel identifizieren, indem sie diese in einen „Scheinmesser“ faltet, an dem sie die Größe der Scheine „ablesen“ kann.
„Ist es bei Blinden immer aufgeräumt?“, will eine der Schülerinnen wissen. „Nein, es ist sozusagen eine sortierte Unordnung“, sagt Seidel, „aber ich weiß, wo alles liegt.“ Wenn sie doch einmal die Orientierung verliert, hat sie noch die Blindenhündin Utah, die Seidel seit dreieinhalb Jahren begleitet. Der schwarze Labrador hat einen Glöckchenring am Halsband und fungiert für Seidel als „Navi auf vier Beinen“. „Wie stellen sie sich Utah vor?“, fragt ein Mädchen. Seidel überlegt kurz. „So, als würde ich sie im Schnelldurchlauf abtasten.“
Seidel ist besonders wichtig, dass die Jugendlichen lernen, worauf man im Umgang mit Blinden oder Sehbehinderten Menschen im Alltag achten sollte: „Wenn ihr einen Blinden an der Straße stehen seht, dann bietet nicht gleich an, dass ihr ihn über die Straße führt, denn vielleicht will er das gar nicht und wartet nur auf jemanden. In so einem Fall immer erst mal fragen!" Erik Wenk
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