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Von Henri Kramer: „Tierinsel“ für junge Obdachlose

Fallzahlen in Potsdam haben sich verdoppelt / „Tierinsel“-Projekt in Eiche soll gegensteuern

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Eigentlich haben Potsdams Straßensozialarbeiter vom Wildwuchs-Team der Diakonie rein gar nichts mit Tieren zu tun. Dennoch hat sich Streetwork-Chefin Mirjam Kieser in den vergangenen Tagen gefreut, als sie von der neuen „Tierinsel“ für Potsdam gelesen hat. Bei dem geplanten Projekt soll auf einem Gelände im Ortsteil Eiche ein Tierheim mit einem Hilfsprojekt für perspektivlose Jugendliche verbunden werden. „Der Bedarf ist da“, sagt Kieser, die bei ihrer Arbeit täglich mit jungen Menschen und ihren Problemen zu tun hat.

Für den gefühlten Bedarf hat Awo-Chefin Angela Basekow eine Zahl parat: Rund 35 junge Erwachsene sind momentan im Obdachlosenheim am Lerchensteig und einem weiteren Wohnprojekt der Arbeiterwohlfahrt untergebracht. Vor einem Jahr waren es noch rund 15. „Die Zahl hat sich damit in diesem Jahr noch einmal mehr als verdoppelt“, sagt Basekow. Immer mehr Potsdamer Jugendliche ohne Dach über dem Kopf – dieser Trend ist schon seit zwei Jahren auffällig.

Gegensteuern soll das „Tierinsel“-Projekt am Weg nach Bornim, das die neu gegründete Treberhilfe Brandenburg gGmbH betreuen wird. Dabei sollen junge Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren unter der Anleitung von professionellen Tierpflegern bei der Pflege von Hunden und Katzen eingesetzt werden, erklärt Prokurist Jochen Becker von der Treberhilfe. Sie sollen dabei Schlüsselkompetenzen wieder erlernen, etwa Pünktlichkeit oder die Fähigkeit zur Konzentration. „Sie sollen wieder Verantwortung übernehmen können“, sagt Becker. Denn für manche junge Erwachsene sei es überhaupt nicht selbstverständlich, per Bus jeden Tag zu einem festen Arbeits- oder Lernplatz zu kommen.

Für ihre neue Chance, die die „Tierinsel“ bieten könnte, sollen die Jugendlichen sich bei der Pflege von Hunden und Katzen beteiligen oder einfache Gartenarbeiten übernehmen. Dazu kommen theoretische Seminare, bei denen es etwa um das Schreiben einer Bewerbung geht. Am Ende steht eine Prüfung. „Als besonderen Clou bieten wir noch vier Lehrstellenplätze an, wenn jemand besonders erfolgreich ist“, sagt Becker. Tierpfleger werden ebenso ausgebildet wie Bürokräfte. Auch weiteres ehrenamtliches Engagement in der „Tierinsel“ sei möglich.

Insgesamt sollen in dem Projekt zeitgleich 15 bis 20 Jugendliche betreut werden, jeder etwa sechs Monate lang. „So können wir 40 Jugendliche im Jahr erreichen“, sagt Becker. Einzige Zugangsvoraussetzung sei der „Wille zur Veränderung“, nähere Modalitäten sind bislang nicht bekannt. Auch Bewerbungen sind derzeit noch nicht möglich. Außerdem gibt es bei Anwohnern erheblichen Widerstand gegen die „Tierinsel“, eine Klage und damit Zeitverzögerung drohen.

Dennoch gibt sich Sozialarbeiterin Mirjam Kieser schon jetzt optimistisch. „Dieses europaweit einmalige Projekt ist nicht nur ein Anreiz für Jugendliche, sondern direkt an ihrer Lebenswelt orientiert.“ So könnten junge Obdachlose wieder an einen geregelten Tagesablauf herangeführt werden. Allerdings gibt Mirjam Kieser auch zu bedenken: „Obdachlosigkeit wird bei manchen Jugendlichen subjektiv auch als alternative Lebensform verstanden.“ Doch auch hier sei die „Tierinsel“ mit ihrem Konzept auf dem richtigen Wege – dass Projekt könne Jugendliche zumindest dazu bringen, über sich nachzudenken und über ihr Leben zu sinnieren, ohne sie gleich „automatisch“ an den Arbeitsmarkt zu binden.

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